Wir haben immer hundert Gründe, es gar nicht erst zu versuchen

Schule ginge auch ganz anders, zeigt eine Modellschule in Berlin: mit mehr Eigenverantwortung und mehr Freude. Ein Lesetipp für die Ferien.

Die neun Wochen Sommerferien sind redlich verdient, für Kinder, Lehrer, Lehrerinnen und Eltern. Eine Pause tut gut. Ein Buch könnten sie alle jedoch mitnehmen in die Ferien, falls sie irgendwann doch ein bisschen Sehnsucht kriegen. Drei Mädchen haben es geschrieben. Sie kommen aus Berlin und berichten darin von ihrer Schule. Die heißt ESBZ (Evangelische Schule Berlin Zentrum) und macht vieles radikal anders, als wir es gewohnt sind.

Die Klassenlehrer sind abgeschafft, stattdessen hat jedes Kind einen Tutor oder eine Tutorin. Diese/r übernimmt für das Kind ganzheitlich Verantwortung, jede Woche wird intensiv über alles gesprochen, über das Lernpensum ebenso wie über Persönliches. Frontalunterricht gibt es beinahe gar nicht, 50-Minuten-Einheiten ebenso wenig, und auch keine Hausübungen.

Die Kids zwischen zwölf und 15 sind altersgemischt, gemeinsam macht man in der Klasse soziales Lernen, Werken, Religion, Sport und Essen. Ansonsten gibt es individuelle Lernziele, die Kids erarbeiten sich dafür selbstständig die Bausteine. Für die Hauptfächer (Mathe, Deutsch, Englisch, Natur und Gesellschaft) steht jeweils ein Raum („Lernbüro“) zur Verfügung, mit Karteikästen, Materialien, Anleitungen, Übungen. Außerdem sitzt dort jeweils ein Fachlehrer bzw. eine Fachlehrerin. Allerdings lautet die Regel: Bevor du den oder die fragst – frag erst ein anderes Kind.

Wer sich ein Gebiet angeeignet hat, sei es Bruchrechnen oder die Fotosynthese, und sich bereit fühlt, schreibt einen Test. Allein. Und bekommt dafür ein Zeugnis. Nicht mit Note, sondern mit ausführlicher individueller Beurteilung.

Zum Pflichtprogramm gehört außerdem das Fach „Verantwortung“: Alle suchen sich außerhalb der Schule eine regelmäßige soziale Aufgabe, etwa in einem Kindergarten oder einem Altersheim. Sowie das Fach „Herausforderung“, das an die Walz der mittelalterlichen Handwerksgesellen erinnert: Da gehen die Kids jedes Jahr in kleinen Gruppen auf eine selbst organisierte Reise. 150 Euro müssen reichen, irgendwie muss man sich durchschlagen, Unterkunft finden, arbeiten, Erfahrungen sammeln, erwachsen werden. Es gibt eine Begleitperson, doch die greift nur im Notfall ein.

Klingt nach einer rundum tollen Sache. Aber was ist der normale Reflex, wenn man in Österreich von einer derart tollen Sache hört? Man formuliert hundert Einwände, warum das nie und nimmer funktionieren kann.

Zum Beispiel: Wahrscheinlich lernen die ja alle gar nichts, in Berlin-Mitte! (Stimmt nicht: die allermeisten machen Abitur, mit überdurchschnittlichem Ergebnis). Okay, dann sind das wohl alles hochbegabte, privilegierte Kinder! (Stimmt auch nicht: Die ESBZ ist eine richtige Gesamtschule, manche Kinder bringen eine Gymnasial-, andere eine Hauptschulempfehlung mit). Die haben sicher viel mehr Ressourcen als wir! (Eher nicht – die Berliner Kommune ist so gut wie pleite). Dann zahlen die Eltern wahrscheinlich sehr viel Schulgeld! (200 Euro beträgt der maximale monatliche Beitrag, das ist genauso viel, wie die Ganztagsbetreuung in öffentlichen Schulen hierzulande.) Die haben sicher ein besonders tolles Gebäude! (Nein, es ist ein hässlicher, alter Plattenbetonbau aus der DDR). Ganz besonders tolle Lehrer! (Ja, die müssen das Konzept mittragen, arbeiten wahrscheinlich mehr als manche anderen. Aber sind dafür deutlich glücklicher mit ihrem Job).

Was könnte es also noch für Gründe geben, warum wir derartiges gar nicht erst versuchen können?

Mir fiele bloß ein einziger stichhaltiger Grund ein: Unser bestehendes Schulsystem ist so großartig, die Ergebnisse sind derart berauschend, und es macht alle Schüler, Schülerinnen, Lehrer, Lehrerinnen und Eltern rundum dermaßen glücklich, dass überhaupt keine Veranlassung besteht, am wunderbaren Status quo irgendetwas zu ändern.

Wenn es so ist – dann ist ja eh alles gut.
Alma, Jamila, Lara-Luna: Wie wir Schule machen. Knaus-Verlag, 2014

E-Mails an:debatte@diepresse.comZur Autorin:

Sibylle Hamann
ist Journalistin

in Wien.
Ihre Website:

www.sibyllehamann.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.07.2014)

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