Argentinien: Fiebern für die Selección

SOCCER - FIFA World Cup 2014, NED vs ARG
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Erstmals seit 24 Jahren steht Argentinien wieder im Finale für den WM-Titel. Fußball spielt in dem südamerikanischen Land eine große Rolle – und entscheidet mitunter auch über den Erfolg in der Politik.

Eine neue Schuldenkrise? Die Korruptionsanklage gegen den Vizepräsidenten? Rezession? Verbrechen? Wer dieser Tage in Buenos Aires den Fernseher einschaltet, muss sich nicht mit all diesen unschönen Sujets herumschlagen. Seit Mittwoch gibt es in sämtlichen Kanälen nur noch ein Thema.

Erstmals seit 24 Jahren steht Argentinien wieder im Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft und diesem Umstand von nationaler Dringlichkeit passen sich alle anderen Vorgänge an. So sagte der Wirtschaftsminister, Axel Kiciloff, seine für Freitag geplante Reise nach New York ab, denn für seinen Schaukampf gegen die böse Finanzwelt hätte er kaum genug Sendeminuten bekommen. An seiner Stelle verhandelten Anwälte mit dem Schlichter über eine Lösung in der Schuldenkrise.

Cristina Kirchner ist es ganz recht, dass all die lästigen Themen von der Bildfläche verschwinden, zudem zwang sie zu Monatsanfang eine Stimmbandentzündung zur Redeabstinenz. Die Präsidentin gehört zu den wenigen Spitzenpolitikern, die nicht die Nähe zum einst von britischen Eisenbahnern in die Pampa eingeschleppten Volksvergnügen suchen. Das mag auch daran liegen, dass es die Busfahrerstochter schon im Jugendalter in den exklusiven Jockey Club von La Plata geschafft hat, also lieber Polo als prolo. Als hilfreich für die peronistische Erdung sollte es sich erweisen, dass ihr Mann, der Patagonier Néstor Kirchner tatsächlich fanatischer Fußballfan war, und für den Racing Club Avellaneda schwärmte, den Lieblingsverein des großen Führers Juan Domingo Perón.

Sympathien im Volk. Tatsächlich war für viele aufstrebende Politiker der Fußball ein Vehikel, um Sympathien und TV-Minuten zu bekommen. Maurio Macri war einst ein sehr reicher Sohn eines noch viel reicheren Unternehmers. Heute ist er Bürgermeister von Buenos Aires mit Präsidentschaftsambitionen. Dazwischen lagen zwölf Jahre im Chefsessel von Boca Juniors, dem beliebtesten und erfolgreichsten Klub ganz Amerikas. Mit einer für argentinische Verhältnisse annehmbaren Administration und diversen Titeln erwarb er sich beim Volk genug Meriten, um danach Wahlen zu gewinnen. Einer der wichtigsten Kontrahenten Macris, der aufstrebenden Peronist Sérgio Massa, war Präsident des Erstligisten Tigre. Und Anfang dieser Woche bekam der Clúb Atlético Independiente einen neuen Präsidenten: Es ist Hugo Moyano, der mächtigste Gewerkschaftsboss des Landes, Beiname „Capomafia“. Mit umgerechnet 40 Millionen Euro ist der Verein verschuldet, ausgeplündert von räuberischen Klubchefs und Barras bravas, jenen parasitären Fangruppen, die bei allen Geschäften des Vereins mitschneiden – vom Klubbuffet bis zu Spielertransfererlösen. Als Gegenleistung bieten die Barras den Mächtigen jegliche Form von Schmutzarbeit an – vom Parolenpinseln bis zur Einschüchterung politischer Gegner.

Die Argentinier kennen all diese Geschichten, sie wissen, dass ihr Fußball von Gewalt, Gier und Korruption zerfressen ist – und doch finden sie in ihm Identifikation und vielfach kollektives Glück. Es kann gut passieren, dass Fremde, die einander auf einer Party begegnen, sich nicht nur mit dem eigenen Namen vorstellen, sondern auch mit dem ihres Vereins.

Buenos Aires ist fraglos die Fußballmetropole der Welt, denn keine Großstadt auf dem Erdball beherbergt mehr Erstligisten. Aktuell kommen 14 der 20 Oberklassenmitglieder aus dem Großraum Buenos Aires. Drei Viertel aller Argentinier schwärmen entweder für die blau-gelben Boca Juniors aus dem alten Hafenviertel oder für River Plate, den Verein aus dem feineren Norden. Aber alle vier Jahre, wenn Weltmeisterschaft ist, dann fallen alle Aversionen, dann fiebern alle für die Selección – und wenn diese gar ins Finale einzieht, dann versinkt das Land in jenem Taumel, der Argentiniens größten Literaten zu einem seiner bösesten Sätze inspirierte. Jorge Luis Borges schrieb: „Fußball ist populär, weil die Dummheit populär ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.07.2014)

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