Andreas Bernard: "Künstliche Fortpflanzung bedroht die Familie nicht"

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ARCHIVBILD/THEMENBILD: KUENSTLICHE BEFRUCHTUNGAPA/Ralf Hirschberger
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Der deutsche Journalist Andreas Bernard hat eine packende Historie der Reproduktionsmedizin verfasst. Den "Ferticheck" sieht er kritisch.

Sie schreiben, dass Verfahren der assistierten Empfängnis heute „jede Exotik“ verloren haben. Für die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sind künstlich gezeugte Kinder „Halbwesen“. Hat Sie eine solche Äußerung im Jahr 2014 überrascht?

Andreas Bernard: Mich haben eher die Heftigkeit der Reaktionen und der Konsens darüber überrascht. Wenn man sich mit der jüngeren Geschichte der Reproduktionsmedizin beschäftigt und die Zeitungskommentare und Debatten in den 1980er- und frühen 90er- Jahren ansieht, erkennt man, dass Lewitscharoffs heutige Ansichten damals noch völliger Konsens waren. Es gab eine große Angst und Skepsis vor künstlicher Zeugung, die erst Anfang bis Mitte der Neunziger gewichen ist.

Wie kam es zu diesem Wandel?

Der Aspekt der Künstlichkeit hat seinen Schrecken verloren, und das Drama der Unfruchtbarkeit ist in den Vordergrund getreten. Heute gilt es als das Schlimmste für Paare, ungewollt kinderlos zu bleiben, und man muss alles tun, um ihnen diesen Wunsch zu ermöglichen. Eine wesentliche Rolle spielt sicher auch, dass die erste Generation der durch In-vitro-Fertilisation gezeugten Kinder Mitte der Neunziger im Grundschulalter waren und sich zeigte, dass es bei ihnen keine signifikanten Unterschiede in der Entwicklung gab. Mit dem Aufkommen der ICSI-Methode konnte auch der unfruchtbare Mann durch Spermieninjektion noch Vater werden. Auch das hat etwas verändert in der in den Neunzigern noch männlich dominierten Sphäre der Ärzte, Politiker und Journalisten. In dem Moment, in dem auch die andere, männliche Seite von den neuen Methoden profitieren konnte, ging die Öffentlichkeit damit wohlwollender um.

Festmachen lässt sich das Ihrer Meinung nach besonders gut an einem Begriffswechsel: Lange sprach man ehrfürchtig-abfällig vom „Retortenbaby“, heute hingegen vom „Wunschkind“. Dieser Wandel ging ja eigentlich recht schnell in 35 Jahren.

Die Technik der Samenspende des Ehemannes wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts angewandt, und auch das medizinische Wissen über die In-vitro-Fertilisation ist bereits achtzig Jahre alt. Ich würde also sagen, es ging nicht so schnell. Die Forschung über extrakorporale Befruchtung, also Befruchtung außerhalb des Mutterleibs, wurde von der Embryologie an Tieren ab 1870 verfolgt. Danach hat man versucht, das beim Menschen zu machen – doch dann geriet der Forschungszweig in Vergessenheit, weil sich die Wissenschaft Mitte des 20. Jahrhunderts auf das Gegenteil, die Entwicklung der Antibabypille, konzentriert hat.

Die Wissenschaft mag sich lang damit beschäftigt haben, doch der Umgang mit dem Thema hat sich in 30 Jahren schon enorm gewandelt.

Das stimmt. Das mag auch daran liegen, dass künstliche Reproduktionstechniken zu jener Zeit aufkamen, als die Möglichkeit für Adoption schwieriger wurde. Ab den späten 1960ern hatte sich die Verfügbarkeit von zur Adoption freigegebenen Kindern um zwei Drittel verringert. Und zwar aus drei Gründen: Antibabypille, liberalere Abtreibungsgesetze und liberalerer Umgang mit alleinerziehenden Müttern. Zudem begann nach 1968 eine Destabilisierung der bürgerlichen Familie. Das hat die Kleinfamilie symbolisch bedroht.

Was heißt der Fortschritt in der Reproduktionsmedizin für unser Familienverständnis?

Meine These ist: Die künstliche Reproduktionsmedizin bedroht die Familie eben nicht, wie man das aus unterschiedlicher politischer Richtung immer noch hört. Ich glaube, dass sich Reproduktionstechnologien nicht umsonst genau zu der Zeit etablierten, als die Kleinfamilie ihre größte Krise erlebte, also in den 1970er-Jahren. Durch diese Techniken wird das Familienmodell mit neuer Empathie versehen – von Leuten, die bis dahin keine Familien gründen konnten.

Das Ur-Familienbild von Vater, Mutter, Kind wird somit erweitert. In Deutschland ist künstliche Befruchtung auch gleichgeschlechtlichen Paaren und alleinstehenden Frauen in einer rechtlichen Grauzone erlaubt. (In Österreich hat der VfGH das Lesbenverbot im Jänner aufgehoben, Anm.)

Man könnte auch sagen: Den Urbegriff „Familie“ gibt es gar nicht. Das konservative Familienbild geht davon aus, dass es immer ein konstantes Familienmodell der blutsverwandten Kleinfamilie gab, das jetzt bedroht ist. Historisch betrachtet gab es aber nur eine relativ kurze Epoche dieser Kleinfamilie zwischen etwa 1770 und 1970. Nun entsteht durch die Reproduktionsmedizin eine neue Konstellation, die an die Epochen davor erinnert, in der es Ammen und Ziehonkel gab und es üblich war, dass in einem Haushalt oder auf einem Hof auch Kinder bereits verstorbener Eltern lebten.

Ihr Buch erhielt hymnische Rezensionen. Kritiker werfen Ihnen vor, zu wenig kritisch mit dem Thema umzugehen. Verstehen Sie das?

Ich habe mich eher gewundert, dass in den positiven Rezensionen oft gesagt wurde, ich würde ein Plädoyer für diese neuen Familienkonstellationen halten. Dabei handelt mein Buch durchaus auch von meinem Erstaunen, dass ausgerechnet Menschen, die in ihrem Lebensentwurf der bürgerlichen Familie lange Zeit konträr gegenüberstanden – also zum Beispiel gleichgeschlechtliche Paare – nun mit besonders großem Aufwand dieses soziale Modell übererfüllen wollen.

Wiener Ärzte einer Kinderwunschklinik schlagen nun einen sogenannten Ferticheck vor, um schon früh die Fruchtbarkeit der Frau abzuklären. Was halten Sie davon?

Die Reproduktionsmedizin erzeugt ein gesellschaftliches Klima, das es für die Betroffenen meines Erachtens immer schwieriger macht, ungewollte Kinderlosigkeit hinzunehmen. Im Grunde wird auch mit diesem neuen Vorschlag die Erzeugung von Leben in normative Bahnen gelenkt. Das befremdet mich. Wir übernehmen heute Techniken, die an ein autoritäres Staatsverständnis erinnern, z.B. an eugenische Verfahren. Schon lange vor den Nationalsozialisten waren Politiker und Wissenschaftler daran interessiert, eine erblich möglichst hochwertige Bevölkerung herzustellen und erblich minderwertige Nachkommen auszuschalten. Heute steht kein autoritärer Staat mehr hinter diesen Ideen, aber mit all den Untersuchungen, die heute möglich sind, bewahrheiten sich genau die Praktiken, von denen diese Staaten vor achtzig, hundert Jahren geträumt haben. Wir betreiben Eugenik ohne Eugenik, im Namen der Vorsorge. awa

Steckbrief

Andreas Bernard
(Jahrgang 1969) wurde in München geboren und ist Redakteur des „SZ“-Magazins und Kulturwissenschaftler am Center for Digital Cultures an der Leuphana-Universität Lüneburg. Im Fischer-Verlag erschien zuletzt »Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne« (2006). 2010 schrieb er den Roman „Vorn“ über den Alltag in der Redaktion der Jugendbeilage einer Tageszeitung.

Im Frühjahr
erschien sein Buch „Kinder machen“ (S. Fischer, 545 Seiten), ein Überblick über die Reproduktionsmedizin der vergangenen 400 Jahre.

Noch ERSCHIENEN

Ein Kind um jeden Preis? Unerfüllter Kinderwunsch und künstliche Befruchtung. Eine Orientierung. Von der Österreicherin Angelika Walser (Tyrolia 2014,
140 Seiten)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.07.2014)

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