Mehr als 180 Flüchtlinge sollen auf ihrer Reise über das Mittelmeer gestorben sein – ertrunken, erstickt oder von anderen Flüchtlingen an Bord niedergestochen und erschlagen.
Messina/Wien. Die Frau klammert sich fest an ihren Mann, ihr Gesicht wirkt wie versteinert. Ihr kleiner Mohammed, zwei Jahre alt, war wenige Stunden zuvor im Mittelmeer ertrunken. Ihr sichtlich erschöpfter Mann beantwortet im Flüchtlingslager im sizilianischen Messina geduldig die Fragen von Journalisten, die das Gespräch filmen. „Wie Tiere saßen wir zusammengepfercht auf dem Deck. Einer über den anderen. Dann kippte das Boot: Mohammed ist ins Wasser gefallen.“ Der 40-Jährige schweigt kurz, bevor er weitererzählt. „Er hat seine Schwimmweste verloren. Ich habe ihn mit meinen eigenen Händen aus dem Wasser geholt. Aber es war zu spät. Sein Herz schlug nicht mehr.“
Die kleine Familie hat eine Odyssee hinter sich: Die drei waren aus dem Bürgerkriegsland Syrien geflüchtet und hatten nahezu ihr gesamtes Vermögen an Schlepper bezahlt, um über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen – „wir hatten auf eine bessere Zukunft für Mohammed gehofft“. Von Sizilien aus wollte die junge Familie erst nach Norditalien und von dort nach Schweden weiterreisen, wo Verwandte auf sie warten. „Wir wollen jetzt nur noch weg von hier, weit weg“, wiederholt der syrische Mann immer und immer wieder.
Von der „Reise“ des illegalen Flüchtlingsbootes aus Libyen, das am Samstag vor der sizilianischen Insel Lampedusa kenterte und von einem dänischen Fischerboot gerettet wurde, kommen immer mehr grausame Details ans Licht: Nach Angaben der Flüchtlinge befanden sich auf dem kleinen Schiff 750 Menschen aus Syrien, Pakistan, Ghana und Nigeria. Mehr als 180 Flüchtlinge sind demnach um ihr Leben gekommen – die meisten vermutlich ertrunken. Viele Frauen und Kinder seien unter den Opfern, sagt ein Flüchtling.
Kind von Wellen verschlungen
Auf einem Video, das einer der Bootsinsassen drehte und das die Tageszeitung „Repubblica“ auf ihre Homepage stellte, sieht man verzweifelte, um Hilfe Rufende auf dem Boot, während im Meer Menschen gegen die Wellen ankämpfen und um ihr Leben ringen. Auch ein Kind ist zu sehen: Das Kleine fällt ins Wasser – und wird von den Wellen verschlungen.
Die Überlebenden beschreiben auch andere Horrorszenen, die sich an Bord ereignet haben sollen, kurz bevor das Schiff gerettet wurde: Unter Deck wurden von der Marine zahlreiche Tote gefunden. Einige waren erstickt – andere wurden offenbar niedergestochen oder erschlagen. „Es kam zu Schlägereien und Streitereien, als einige der Menschen, die sich unter Deck befanden, zu uns hinauf wollten. Aber da war kein Platz“, erzählt ein Syrer. „Sie haben sich gegenseitig ermordet.“
Unter Deck befanden sich vor allem Ghanaer und Nigerianer – sie konnten für die Überfahrt nicht so viel Geld bezahlen und mussten sich deshalb mit den noch gefährlicheren „Plätzen“ im Schiffsinneren zufriedengeben.
Horrorszenen wie diese gehören längst zum traurigen Alltag im Mittelmeer: Allein heuer strandeten laut italienischem Innenministerium 84.000 Migranten in kleinen, oft baufälligen Booten, an Süditaliens Küsten. Hunderte, vielleicht Tausende, sind auf ihrer Überfahrt aus Nordafrika im Mittelmeer ertrunken – die genaue Zahl kennt niemand. Auch viele Kinder sollen ertrunken sein. Die italienische Regierung ist mit der Rettung der Flüchtlinge restlos überfordert – und fordert mehr Unterstützung durch die Europäische Union.
Montagabend fing die italienische Marine erneut ein Schlauchboot mit 61 Menschen auf. Auch dieses Boot kam aus Libyen. Die Flüchtlinge sagten, mehr als 80 Passagiere seien ursprünglich an Bord gewesen – mindestens zwanzig seien während der Fahrt ins Meer gefallen und ertrunken.
AUF EINEN BLICK
Über 81.000 Flüchtlinge wurden allein heuer von der italienischen Marine
und Küstenwache im Rahmen des Einsatzes „Mare Nostrum“ aus zum Teil seeuntüchtigen Booten gerettet. Damit wurde schon deutlich die bisherige Jahres-Höchstmarke von 62.000 Flüchtlingen übertroffen, die 2011 als Folge der Umbrüche im arabischen Raum nach Italien kamen. Rund 500 Menschen haben die Flucht über das Mittelmeer im ersten Halbjahr nicht überlebt, verglichen mit 700 Menschen im gesamten vergangenen Jahr.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2014)