Russland sagt zu, mäßigend auf Separatisten einzuwirken. Die Anzeichen verdichten sich, dass Flug MH 17 von einer Luftabwehrrakete getroffen wurde.
Wien/Moskau. Russlands Präsident, Wladimir Putin, vollzog am Dienstag eine bemerkenswerte Kehrtwende – zumindest rhetorisch: Er sagte erstmals zu, Russland würde seinen Einfluss auf die Separatisten im Osten der Ukraine nützen, um eine vollständige Untersuchung des Absturzes von Flug MH 17 der Malaysia Airlines am vergangenen Donnerstag zu ermöglichen. Bisher hat der Kreml abgestritten, überhaupt Einfluss auf die Rebellen ausüben zu können. Gleichzeitig mahnte Putin, der Westen müsse aber auch auf die Regierung in Kiew einwirken, um die Kämpfe in der Ostukraine zu beenden.
Das Passagierflugzeug wurde vermutlich abgeschossen, wobei Russland und die Separatisten die ukrainische Armee beschuldigen, während Kiew, die USA und viele EU-Staaten die prorussischen Rebellen verantwortlich machen. Zusätzlich brachte Russlands Verteidigungsministerium jüngst eine Variante ins Spiel, wonach MH17 nicht von einer vom Boden aus abgefeuerten Luftabwehrrakete abgeschossen wurde, sondern von einem ukrainischen Kampfflugzeug. Russisches Radar habe eine SU-25 in drei bis fünf Kilometer Entfernung von der Boeing ausgemacht. Der Kampfjet sei erst kurz vor dem Absturz der Passagiermaschine aufgetaucht.
„Manipulation in industriellem Ausmaß“
Mehrere Militärexperten kamen nach der Analyse eines Wrackteils aus der Nähe des Cockpits zu dem Schluss, dass es allerdings eine Boden-Luft-Rakete war, die den Absturz verursachte, und zwar wegen der auf Schrapnelle zurückgeführten Löcher. „Die Größe dieser Schrapnell-Löcher entspricht dem, was man von einem SA-11-Treffer erwarten würde“, zitierte die „Financial Times“ Justin Bronk vom „Royal United Services Institute“ in London. SA-11 ist ein für den Abschuss infrage kommender Raketentypus, der sein Ziel nicht direkt trifft, sondern in Dutzenden Metern Entfernung explodiert und viele Metallsplitter freisetzt, die möglichst großen Schaden anrichten sollen.
Die OSZE warf derweil den Rebellen vor, die Wrackteile durch Zerschneiden zu manipulieren: Die Aufständischen machen geltend, dies sei zur Bergung der Leichen nötig gewesen, doch die OSZE spricht von einem „sehr invasiven“ Vorgehen. Schärfer drückte es Australiens Premier, Tony Abbott, aus: „Was wir gesehen haben, ist die Manipulation von Beweisen in industriellem Ausmaß, und das muss natürlich aufhören.“ Russlands Einfluss schien erste Früchte zu tragen: Die Rebellen übergaben die orangefarbenen Black Boxes in der Nacht auf Dienstag zunächst malaysischen Experten. Die Niederlande, die die Untersuchungen zu dem Unglück leiten – zwei Drittel der Opfer sind Holländer – haben britische Experten mit der Sicherung der Daten aus den Flugschreibern beauftragt, die am Dienstag nach Großbritannien gebracht werden sollten.
Ukraine verfügt Teilmobilmachung
Der Kühlzug mit den bisher gefundenen sterblichen Überresten kam derweil in Charkow an, einer ostukrainischen Stadt, die allerdings im Gegensatz zur Absturzstelle unter der Kontrolle der Regierung ist. Es handelt sich angeblich um 282 Leichen und 87 Leichenteile von 16 Personen. Entgegen den ursprünglichen Plänen wollen die Niederlande die Leichen der getöteten Holländer schnellstmöglich ausfliegen, da die Identifizierung in den Niederlanden schneller gehe.
Das ukrainische Parlament bestätigte unterdessen einen Erlass von Präsident Petro Poroschenko für eine weitere Teilmobilmachung von Reservisten. Dies sei nötig, um die Grenze zum Nachbarn Russland wirksam zu schützen.(hd/ag)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.07.2014)