Entführung eines Soldaten mischt Karten neu

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Nahost. Am Freitag wurde nach einem Angriff durch einen Tunnel ein israelischer Leutnant in den Gazastreifen verschleppt. Das letzte Mal, als das passierte, musste Israel im Austausch mehr als 1000 Gefangene freilassen.

Jerusalem. Am frühen Freitagnachmittag erreichte die Schockmeldung die Öffentlichkeit: Der 23-jährige israelische Soldat Hadar Goldin ist in den Gazastreifen verschleppt worden. Kaum zwei Stunden hielt gestern die zuvor auf drei Tage festgelegte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas, als sich gegen neun Uhr am Morgen eine Gruppe militanter Palästinenser durch einen geheimen Tunnel im südlichen Gazatreifen nach Israel schlich und dort eine Gruppe von Soldaten überraschte.

Einer der Angreifer soll sich selbst in die Luft gesprengt haben, bevor es dem Kommando gelang, Goldin in den Gazastreifen zu verschleppen. Zwei Soldaten sind bei dem Überfall zu Tode gekommen. Bei anschließenden schweren Gefechten in Rafah an der Grenze zu Ägypten starben mindestens 50 Palästinenser im Artilleriebeschuss, hunderte wurden verletzt.

Noch in der Nacht hatten Israel und die Hamas auf Druck des Weißen Hauses und der UNO einem dreitägigen humanitären Waffenstillstand zugestimmt. Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas verglich die Lage im Gazastreifen zuvor mit einer „humanitären Katastrophe“. Gut 400.000 Palästinenser waren aus ihren Häusern geflohen. Mehr als 10.000 Gebäude sind bei den Kämpfen bisher komplett oder zum Teil zerstört worden. Das einzige Elektrizitätswerk im Gazastreifen arbeitet nur mit einem Drittel der Kapazität.

Beide Seiten machten sich gegenseitig für das Scheitern der Feuerpause verantwortlich. Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu erklärte in einem Telefonat mit US-Außenminister John Kerry, dass „Israel alles Notwendige gegen jene unternehmen wird, die zu seiner Zerstörung aufrufen und die Terrorakte gegen seine Bürger verüben“. Demgegenüber stritt Mussa Abu Marzuk, die Nummer zwei im Hamas-Politbüro, ab, die vereinbarte Waffenruhe gebrochen zu haben. Die Operation habe „noch vor Beginn der Waffenruhe“ stattgefunden. Die Hamas sei unverändert bereit für eine Feuerpause und Verhandlungen über einen längerfristigen Waffenstillstand. Über die Bedingungen eines eventuellen Gefangenenaustausches müsse indes separat verhandelt werden.

Immense Stärkung für Hamas

Die Entführung eines Soldaten ist der GAU für die israelische Armee. Genau wie im Sommer vor acht Jahren, als der Soldat Gilad Schalit von Hamas-Aktivisten entführt wurde, gelangten die Angreifer unbemerkt durch einen Tunnel auf israelisches Gebiet, töteten mehrere Soldaten und nahmen einen von ihnen in Gefangenschaft. Schalit kam erst nach fünfjähriger Geiselhaft im Herbst 2011 wieder auf freien Fuß, im Gegenzug für die Amnestie von mehr als tausend palästinensischen Häftlingen.

Für Israels Sicherheitsapparat bedeutet die Entführung zudem eine peinliche militärische Schlappe. Seit knapp vier Wochen sind zigtausende Soldaten im Einsatz. Ihr zentraler Auftrag lautet, die geheimen Tunnel zwischen dem Gazastreifen und Israel ausfindig zu machen und zu zerstören. Die Armee wusste von Plänen der Hamas, Soldaten in ihre Gewalt zu bekommen. Die Suche nach Goldin konzentrierte sich zunächst auf den Süden des Gazastreifens, wo die Soldaten die Region absperrten, in der der Vermisste vermutet wird.

Für Verwirrung sorgten die unterschiedlichen Stellungnahmen der Hamas zu dem Fall. Mussa Abu Marzuk hatte noch zu Mittag bestätigt, dass die Bewegung einen israelischen Offizier in ihrer Gewalt habe. Demgegenüber stritt der militante Flügel der Hamas jedes Zutun an einer Entführung ab.

Die ägyptische Regierung hatte Israel sowie eine Delegation der Hamas und der moderaten Fatah schon gestern nach Kairo geladen, allerdings hätten palästinensische Vertreter um eine Vertagung gebeten. Die Hamas würde mit einem israelischen Gefangenen in ihrer Macht und dem überraschenden militärischen Erfolg der Operation ihre Ausgangsposition für Verhandlungen deutlich stärken. Der frühere israelische nationale Sicherheitsberater Giora Eiland hält es für ausgeschlossen, dass sich Israel zu Waffenstillstandsverhandlungen bereit erklärt, solange Goldin als Geisel gehalten wird.

www.Weitere Infos:www.diepresse.com/nahost

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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