Die Idylle im Kibbuz Be'eri an der Grenze zum Gazastreifen trügt. An Raketen hat man sich zwar gewöhnt. Doch die Familien fürchten plötzliche Überfälle bewaffneter Kommandos.
Die letzten fünf Kilometer auf der 232 zwischen der Saad-Kreuzung bis zum Kibbuz Be'eri sind gespenstisch. Am Straßenrand stehen ein paar Autos, vermutlich von Reservisten, unter einer dicken Schicht aus Staub und Sand, den die Panzer aufwirbelten. Nur wer eine Sondergenehmigung des Militärs hat, darf auf die Straße, die in nur wenigen hundert Metern Abstand parallel entlang der Grenzanlagen des Gazastreifens verläuft.
Sieben israelische Kibbuzim liegen an der Straße. Sechs davon – die Ausnahme bildet Be'eri - sind nahezu menschenleer. Nur eine Handvoll Leute blieb in den Geisterstädtchen zurück, um die Kühe zu melken, die Hühner zu füttern und die thailändischen Arbeiter anzuweisen, die wie im Kibbuz Nirim Äpfel verpacken und die Felder bewässern. Wer nicht unbedingt bleiben musste, packte schon vor Wochen die Koffer und zog nach Norden, weg von den Raketen, die hier ohne Vorwarnung jederzeit einschlagen könnten, und weg von den geheimen Hamas-Tunneln, durch die islamistische Terrorkommandos nach Israel eingeschleust werden sollen. In Zeiten der Not funktionieren die Kooperativen am besten. Die Kibbuzim im Norden nehmen die Flüchtlinge auf.
Wer das Tor an der Einfahrt von Be'eri passiert, fühlt sich sofort etwas sicherer, wenn er das satte Grün der Parkanlage sieht, die sich überall großzügig zwischen den Gemeinschaftseinrichtungen, der modernen Druckerei und den privaten Wohnhäusern erstreckt. Der Kibbuz liegt gerade weit genug von den Grenzanlagen entfernt, um nicht mehr von den Hamas-Mörsergranaten erreicht zu werden.
15 Sekunden Zeit bleiben bei Raketenalarm. Das reicht, denn überall gibt es sichere Unterstände. Zwei Kibbuzniks (Kibbuzmitglieder) liegen auf dem Rasen und rauchen, eine ältere Frau lenkt ihren Miniscooter Richtung Speisesaal, und eine Gruppe Soldaten fragt, wo das Konzert von Matti Caspi stattfindet. Der populäre Liedermacher ist einer von Dutzenden Künstlern, die für die Armee umsonst hier auftreten. Be'eri ist für hunderte Soldaten eine Oase der Ruhe. Sie kommen, um zu duschen und um für ein paar Stunden zu schlafen.
Doch die Idylle trügt. Mit dem Raketenbeschuss haben sich die Leute zwar arrangiert. Routiniert suchen auch die Kinder Schutz, wenn Alarm ist, um nach ein bis zwei Minuten dort weiterzumachen, wo sie eben aufgehört haben. Als sei nichts passiert. In den komplett mit Betondächern vor Raketen geschützten Kinderhäusern läuft der Betrieb wie immer, nur draußen wird in diesem Sommer nicht gespielt, und auch das Schwimmbad ist meist geschlossen.
Türen und Fenster zu, Licht aus
Es ist die Angst vor Terrorkommandos, die sich durch einen der geheimen Tunnel unbemerkt Zutritt verschaffen könnten, die die Leute zermürbt. „Ich liege im Bett und überlege, was ich mache, wenn ein Terrorist kommt“, sagt Bosmat Burstein, alleinerziehende Mutter dreier Mädchen. „Am besten wäre wohl ein Küchenmesser“, meint sie und lacht bitter. „Ich wüsste gar nicht, wo man am besten zusticht.“
Die Tunnel sind nicht neu, nur dass es so viele sind, habe man vor dem Krieg nicht gewusst. Vor 13 Jahren sei es schon einmal einem Kommando gelungen, in den Kibbuz einzudringen. „Wir mussten Fenster und Türen schließen und das Licht ausschalten.“ Stundenlang verharrte sie so mit den Kindern. „Ich hab überlegt, ob ich meine Töchter im Kleiderschrank verstecke.“ Im Moment sei die Region aber voller Militärs und gut überwacht. Vier Soldaten starben diese Woche bei Gefechten mit Kämpfern, die durch einen Tunnel bis zum Kibbuz Nachal Oz, nur wenige Kilometer von Be'eri entfernt, vordrangen. Burstein hat Angst, dass die Soldaten abziehen, bevor alle Tunnel zerstört sind.
Ihr Vater, Abraham Mencer Dvori, ist Vorsitzender von Be'eri. Es habe hier schon schlimmere Zeiten gegeben, sagt er. „Als Kind habe ich öfter im Bunker geschlafen als zu Hause.“ Der Kibbuz gehört zu den erfolgreichsten aller israelischen Landwirtschaftskooperativen und ist bis heute traditionell organisiert. Jeder gibt an die Gemeinschaft, was er kann, und kriegt zurück, was er braucht.
„Wir stehen in der ersten Linie der Heimatfront“, sagt Dvori. Panzerbrigaden fahren an seinem Haus vorbei auf ihrem Weg in den Gazastreifen. Früher beschäftigte der Kibbuz auch Palästinenser aus Gaza. „Wir hatten vier Arbeiter hier, denen wir bis heute noch jeden Monat 1400 Schekel (ca. 250 Euro) bezahlen, obwohl sie seit 20 Jahren nicht mehr herkommen dürfen.“ Die islamischen Extremisten terrorisierten die eigene Bevölkerung fast noch schlimmer als die Israelis, meint Dvori. „Wir müssen die Palästinenser vor der Hamas retten.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)