Missbrauch der Worte: Neue, alte Sprache des Hasses

Antisemitismus, Hasstiraden und Xenophobie: In der Gesellschaft und im Internet nimmt der Verbalradikalismus zu.

Gewichtige Wendepunkte in der Geschichte gehen zumeist mit Zuspitzungen sprachlicher Prozesse einher. Noch bevor sich die Realität aus dem Gleichmaß des sogenannten Normalzustandes in eine Tragödie verwandelt, schlägt bereits die Sprache um. Im Fall historischer Zäsuren tritt das Phänomen des sogenannten Verbalradikalismus besonders deutlich zutage. Das war in der Antike nicht anders als zurzeit der Kreuzzüge; 1789 nicht anders als im Jahre 1914 oder danach.

Während im bedeutungsschweren Sommer von 1914, in Zeiten höchster Spannung Depeschen redigiert und diplomatische Noten ausgetauscht wurden, als fieberhaft an Formulierungen gefeilt wurde, erreichte das Ringen um den Effekt der Worte schicksalshafte Dimension. Ein Jahrhundert später gleitet die Sprache erneut ab, stürzt ab in freiem Fall zwischen Hasstiraden, Xenophobie und aufbrandendem Antisemitismus. Doch die Sprachentgleisungen schreiten nicht einfach unbegrenzt fort: An ihrem Höhepunkt angelangt, bereiten sie eine neue Dimension vor, jene, in der die Tat das Wort überschreitet. Der latente Hass wird durch die Sprache aufgeweckt, er wird manifest. „Wehret den Anfängen!“ ist daher kein leeres Gerede, sondern therapeutischer Aufruf.

Gegenrede ist Pflicht

Veränderte Sprache bleibt nicht in der Dimension des Textes stehen, sie zieht Handlungen nach sich, zunächst scheinbar nur Sprachhandlungen. Jedoch ist der Übergang vom Wort zur Tat ein fließender, subkutaner Prozess mit eigener Dynamik. Der Wortmissbrauch wirkt überraschend, plötzlich und unerwartet, wie ein falscher Ton erzeugt er eine Atmosphäre der sprachlichen Übertretung, Zuspitzung und Übertreibung. Die sprachliche Ordnung wird durch umgewertete Bezeichnungen, durch verfälschte Kommunikationscodes nachhaltig gestört und damit nimmt auch das gesellschaftliche, politische und kulturelle Gefüge Schaden. Aufgeklärte Gegenrede ist Pflichtsache, doch der zutiefst verinnerlichte Humanismus spricht mit leiser Stimme, respektvoll und tolerant; zu oft überbrüllt von Hetzparolen.

Jegliche mitteilende, erklärende oder berichtende Sprache wird durch umgewertete Wörter zerschmettert. Verbalradikale Rhetorik hat nicht mehr die Kenntnisnahme durch den Hörenden zum Ziel, sondern nur noch dessen kritiklose Zustimmung: Nicht der Wahrheitsgehalt einer Aussage, sondern das für wahr Gehaltene dominiert den Diskurs. Und zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte reichte das für wahr Gehaltene aus, um politische Mehrheiten zu gewinnen.

Sprachliche Verkürzungen sind effizient, wenn es darum geht, Assoziationen, Angstbilder und Analogien hervorzurufen. Solcherart reduziert populistischer Wortmissbrauch die Komplexität der Wirklichkeit so lange, bis eine gesellschaftliche Mehrheit dieser simplifizierten Weltsicht zuzustimmen bereit ist. Die autoritären und totalitären Herrschaftssysteme der Antike geben beredtes Zeugnis davon, wie die Massen durch Simplifikationen fanatisiert und gesteuert wurden.

Dass die sprachliche Manipulation niemals aufhört, ihre Wirkung zu tun, zeigen die verbalen Deformationen während der dunklen Zeiten des Nationalsozialismus mit seinem rassisch herabwürdigenden Vokabular voll Demagogie, pervertierter und in das Monumentale gesteigerter Sprache.

Bereits die Intention des Wortmissbrauches, bereits der taktische Vorsatz des bewussten Übertretens und missbräuchlichen Verwendens von Sprache legt den Grund für das Verlassen des Diskurses. Mit verbalradikalen Texten wird sprachliche Ausgrenzung vorangetrieben, nicht erst seit 1914, als aus dem Volksmund „jeder Stoß ein Franzos, jeder Schuss ein Russ“ hervorquoll.

Der Moment des rhetorischen Umschlagens von Sprache ist ein Augenblick höchster Spannung. Diese führt zu Angreifbarkeit, Verletzlichkeit und zu höchstmöglicher negativer Wirkung des Sprachmissbrauches. Gegensätzliche sprachliche Übertretungen heben einander nicht auf wie mathematische Vorzeichen, löschen einander nicht aus, sondern wirken additiv, verschärfend und potenzieren einander.

Semantische Aufladung

Hassreden bleiben als Ergebnisse verzerrter Sprache bestehen und sie bleiben erinnerbar, da die veränderten Worte ihre semantische Aufladung beibehalten. Der Bedeutungshorizont der Sprache, der von Toleranz und Akzeptanz bestimmt war, wird eingeschränkt, eingerissen und zum Teil langfristig zerstört.

Die Sprache der Männer von 1914 gestattete keine Denkalternativen mehr, sie wurde zum Mittel der Durchsetzung von Macht. Die Sprachtäter saßen hinter verschlossenen Türen und formulierten so lange, bis ihre tendenziöse Sprachlenkung eine bedingungslose Annahme des Ultimatums durch Serbien unmöglich machte. Das politische Argument ist 1914 nicht auf seinen Wahrheitsgehalt, sondern nur auf seine Mehrheits- und Bündnisfähigkeit hin überprüft worden.

Im kollektiven Sprachbewusstsein wurden Freiheit, Tugend und sogar das Gottgewollte politisch-sprachlich umgewertet und als Rechtfertigung für das Ausüben von Gewalt instrumentalisiert. Unpräzise, mehrdeutige Sprache, das verbale Erzeugen von Schreckens- und Feindbildern beschleunigte jenen Kreislauf der Veränderung aller bestehenden Strukturen.

Sprachopfer der Täuschung

Damals wie heute waren und sind die Abnehmer verbalradikaler Texte Sprachopfer der Täuschung auf einem Markt des „als“ und des „als ob“. Heute wie damals wird häufig mit Befreiungsterminologie operiert, indem überhöhte Bedrohungsszenarien konstruiert werden. Deren Stereotype und Angstbilder führen zu Schematisierungen und Subsumierungen. Gegen die Zerrbilder – nicht gegen die diesen zugrunde liegende Realität – wird sodann sprachlich zu Felde gezogen und polemisiert.

An Wendepunkten der Geschichte bricht das Archaische aus der Sprache. Diese Archaik traf nicht nur während der beiden Weltkriege auf gesellschaftliche Zustimmung, sondern verfügt auch 2014 über fanatische Anhänger. Doch bereits die Intention des Wortmissbrauches, bereits der taktische Vorsatz des bewussten Übertretens und missbräuchlichen Verwendens von Bezeichnungen legt den Grund für eine Sprache des Hasses; bereits die Intention, israelkritische Positionen in antisemitische verwandeln zu wollen, entspricht geistig-sprachlicher Aufrüstung.

Indes eröffnen gerade die Zeiten der Krise Möglichkeiten zur Deeskalation durch sprachlichen Wandel. Ob gesellschaftliche Transformationen als Revolutionen, rettende Krisen, als reinigende Gewitter oder als Schritte vom Regen in die Traufe wahrgenommen werden, ist dem Urteil jedes Einzelnen überlassen. Doch jeder Mensch bleibt im Sinn des Gesellschaftsvertrages stets dafür verantwortlich, welchen Gebrauch er von Sprache macht, sobald er seine subjektive Weltwahrnehmung zum Ausdruck bringt.

DER AUTOR

E-Mails an: debatte@diepresse.com



Paul Sailer-Wlasits
ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter, geb. 1964 in Wien. Sein zuletzt veröffentlichtes Buch „Verbalradikalismus. Kritische Geistesgeschichte eines soziopolitisch-sprachphilosophischen Phänomens“ erschien dieser Tage auch als E-Book. Darin analysiert er die Zusammenhänge von Sprache und politischer Macht. [ privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.08.2014)

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