Erdogan
Vom religiösen Häftling zum türkischen "Sultan"

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Das erste Mal macht Recep Tayyip Erdogan weder in der Moschee noch in der Politik von sich reden. Sondern auf dem Fußballplatz. "Imam Beckenbauer" nennen sie den jungen Mann, der da im Istanbuler Arbeiterviertel Kasimpasa den Ball streichelt. Die Eltern, arme Schwarzmeer-Türken, verhindern die Fußballkarriere. Bild: Auch als Regierungschef bearbeitet Erdogan von Zeit zu Zeit das runde Leder.
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Erdogan ist nicht nur ein guter Kicker, sondern auch ein streng religiöser Jugendlicher. Er absolviert eine Imam-Schule, schließt ein Studium der Betriebswissenschaften ab. Angeblich wollte er sogar Prediger werden. Doch stattdessen sollte sich der Macher dem politischen Islam zuwenden. Mit nur 41 Jahren wird Erdogan Oberbürgermeister Istanbuls. Und agiert dort zunächst durchaus pragmatisch: Unter ihm erlebt die Bosporus-Metropole einen wirtschaftlichen Aufschwung, die Verwaltung wird effizienter. Müllabfuhr und Wasserversorgung funktionieren. Doch immer wieder brechen auch die religiöse Überzeugungen aus Erdogan heraus: So nennt er sich angeblich oberster "Imam" der Stadt.
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Erdogans erste Polit-Karriere endet abrupt. Der Istanbuler Bürgermeister hatte im Dezember 1997 auf einer Veranstaltung der später verbotenen Wohlfahrtspartei aus einem Gedicht einen Satz, der ihm bis heute vorgehalten wird, zitiert: "Die Minarette sind unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme, die Moscheen unsere Kasernen und die Gläubigen unsere Armee." Erdogan wird 1998 verurteilt, im März 1999 muss er wegen religiöser Aufhetzung des Volkes für knapp vier Monate ins Gefängnis. Außerdem wird er mit einem lebenslangen Politikverbot belegt. Bild: Erdogan tritt seine Haftstrafe an.
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Am 3. November 2002 erschüttert ein politisches Erdbeben die Türkei, die islamisch-konservative AKP erringt unter ihrem Vorsitzenden Erdogan 34,4 Prozent der Stimmen. Weil Erdogan nicht kandidieren durfte, wird sein Vize, der heutige Präsident Abdullah Gül, zum Regierungschef. Vorübergehend. Denn dann wird am Gesetzestext geschraubt: Die "Lex Erdogan" erlaubt es dem AKP-Chef schließlich, über eine Nachwahl ins Parlament einzuziehen und am 11. März 2003 zum Regierungschef aufzusteigen. Das "lebenslange" Politikverbot für Erdogan, es endet nach rund fünf Jahren.
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Erdogan treibt die Westöffnung der Türkei voran. Ausländische Investitionen sorgen für einen Wirtschaftsboom. Binnen zehn Jahren - von 2001 bis 2011 - verdreifacht sich das Pro-Kopf-Einkommen. In Provinzstädten wächst eine neue konservative Mittelschicht heran. Politisch steuert der vierfache Familienvater die Türkei auf EU-Kurs. Im Oktober 2005 werden offiziell Beitrittsverhandlungen aufgenommen, die heute, knapp neun Jahre später, auf Eis liegen.
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Nach Jahrzehnten der bewaffneten Auseinandersetzung schlägt Erdogan auch einen Versöhnungskurs mit den Kurdenkämpfern der PKK in der Südosttürkei ein. Abgesandte der Regierung handelten mit dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan einen Abzug seiner Kämpfer aus der Türkei aus. Die kurdische Minderheit wird aus der Isolation geholt, Sprachverbote werden gelockert. So darf es nun etwa wieder kurdische Radiosendungen geben.
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Erdogan kümmert sich zunächst auch um religiöse Minderheiten, darunter Christen und Juden. Unter dem Banner der Religionsfreiheit lässt der Regierungschef auch das Kopftuchverbot in öffentlichen Institutionen und später per Verfassungsänderung auch an Hochschulen aufheben. Erdogans Kritiker sehen darin Angriffe auf die laizistische Republik, ja auf das säkulare Vermächtnis von Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk, als dessen Erbe sich Erdogan so gerne darstellt. Ein Werbeverbot für Alkohol bestärkt Kritiker in ihrer Vermutung, dass Erdogan hinter der demokratischen Fassade eine islamistische Agenda verfolgt. Bild: Erdogan mit seiner Kopftuch tragendenen Frau Emine.
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Die Politik Erdogans hat über die Jahre autoritäre Züge bekommen. Auf Kritik reagiert der Premier immer dünnhäutiger. 2009 kommt es beim Weltwirtschaftsforum in Davos zum Eklat. Israels Präsident Shimon Peres hält ein flammendes Plädoyer für den Krieg Israels in Gaza. Erdogan findet, er bekomme nicht genug Redezeit und stürmt von der Bühne. Er sei respektlos behandelt worden, sagt Erdogan später: "Eine neue Ära hat begonnen. Die Türkei ist nicht ein beliebiges Land. Die Türkei ist groß und wichtig. Wer in die Geschichte schaut, wird das sehen."
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Westliche Beobachter verschreckt aber vielmehr der von Erdogan forcierte türkische Pannationalismus . Ein Jahr vor dem Eklat in Davos hielt Erdogan eine Brandrede vor seinen türkischen Anhängern in Köln: "Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit", donnerte er ins Publikum. Es war ein Wahlkampfauftritt im Ausland. Sechs Jahre später wird Erdogan, im Vorfeld der Präsidentschaftswahl, auch in der Wiener Albert-Schultz-Eishalle wahlkämpfen.
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Innenpolitisch entmachtet Erdogan nach und nach seinen schärfsten Widersacher, das türkische Militär, ein Staat im Staat, der sich als Behüter der laizistischen Verfassung erachtet. Beispielhaft dafür steht der Prozess um Ergenekon. Dabei soll es sich um einen ultrantionalistischen Geheimbund handeln, der angeblich Erdogans AKP-Regierung stürzen wollte. Viele der mehr als 270 Beschuldigten müssen für Jahrzehnte ins Gefängnis - darunter Militärs, Politiker und Journalisten. Der frühere Armeechef Ilker Basbug wird im August 2013 zu lebenslanger Haft verurteilt. Gerüchte kursieren, wonach der Prozess auch ein Zugeständnis Erdogans an den mächtigen, vom Militär als Extremisten gejagten und deshalb im US-Exil lebenden Islamgelehrten Fethullah Gülen (rechts auf dem Plakat ) darstellt.
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Schließlich kommt es auch zum Bruch zwischen Erdogan und Gülen. Die Bewegung des Islamgelehrten soll daraufhin Vergeltung geübt und den Korruptionsskandal der Regierung Erdogan publik gemacht haben. Die Ermittlungen erstrecken sich auch auf die Familien mehrerer Minister. Im Internet tauchen Mitschnitte von Telefonaten Erdogans mit seinem Sohn Bilal (Bild) auf, in denen die beiden angeblich besprechen, wie sie größere Geldsummen vor der Justiz verstecken können. Erdogan bezeichnet die Mitschnitte als Manipulation und reagiert auf die Vorwürfe mit eiserner Härte. Eine "Säuberungswelle" in Polizei und Justiz beginnt, hunderte Beamte werden zwangsversetzt. Soziale Netzwerke lässt er vorübergehend sperren. Das geht dann selbst seinem langjährigen Weggefährten Gül zu weit: Der Präsident twittert gegen das Twitter-Verbot an.

Den Zorn des Regierungschefs hatten vor der Justiz bereits die sogenannten Gezi-Demonstranten zu spüren bekommen. Mit Tränengas und Gummigeschossen ließ Erdogan die Polizei gegen die Aktivisten vorgehen, die gegen die Bebauung eines Parks in Istanbul demonstriert hatten. Die Demonstrationen schlugen auch wegen dieses brutalen Polizeieinsatzes rasch in einen allgemeinen Regierungsprotest um. Nach seiner Rückkehr aus Nordafrika, auf dem Höhepunkt der Proteste, empfangen Tausende Anhänger Erdogan auf dem Flughafen. "Keine Macht außer Allah kann den Aufstieg der Türkei aufhalten", ruft er ihnen zu. Und seine Gegner rückt er in die Nähe von Terroristen und Kriminellen. Spätestens jetzt ist die ganze Türkei polarisiert und gespalten, in Gegner und Anhänger Erdogans, des neuen Präsidenten.
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