Erdoğan, der Staatsmann aus dem Schlägerviertel

A huge election campaign banner of Turkey´s Prime Minister and presidential candidate Tayyip Erdogan hangs on a building in Istanbul
A huge election campaign banner of Turkey´s Prime Minister and presidential candidate Tayyip Erdogan hangs on a building in Istanbul(c) REUTERS (MURAD SEZER)
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Der Istanbuler Stadtteil Kasimpaşa gilt als raue Gegend, Schlägereien sind hier an der Tagesordnung. Aus diesem Biotop stammt der Premier, der am Sonntag seine Laufbahn mit der Wahl zum Präsidenten krönen will.

Wenn am Sonntag die türkischen Wähler über einen neuen Staatschef entscheiden, dann muss sich Recep Tayyip Erdoğan um eines sicher keine Sorgen machen: um Kasimpaşa. Der Istanbuler Stadtteil zwischen dem Goldenen Horn und dem bei Einheimischen wie Touristen so beliebten Vergnügungsviertel Beyoğlu ist eine Hochburg von Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung. Die Menschen hier fühlen sich dem Mann, der der erste frei gewählte Präsident der Türkei werden will, besonders verbunden. Denn Erdoğan ist auf den Straßen von Kasimpaşa groß geworden.

„Er hat seine Kindheit und seine Jugend hier verbracht, er ist Ministerpräsident, und jetzt wollen wir ihn als Staatspräsidenten sehen“, sagt Kasimpaşa-Bewohner Yusuf Köşe. Mit seiner Lage in der Nähe des Goldenen Horns ist Kasimpaşa ein altes Werften- und Hafenviertel, mit vielen engen Gassen und einem durchaus zweifelhaften Ruf. In den vergangenen Jahrzehnten haben sich viele Türken vom Schwarzen Meer hier angesiedelt, darunter auch die Familie Erdoğan.

Es ist ein konservatives Viertel. Einige Damenfriseure in Kasimpaşa haben sich auf kopftuchtragende Kundinnen spezialisiert. Sie bieten unter anderem kunstvoll gebundene Kopftücher als Teil der Hochzeitsmode an.

Fußball spielen im Erdoğan-Stadion.

Die Menschen von Kasimpaşa gelten als aufbrausend und nicht zimperlich, wenn es um Schlägereien geht. Mitten in dem kleinbürgerlichen Viertel steht das Recep-Tayyip-Erdoğan-Stadion des Erstligisten Kasimpaşsa Spor, der sich der besonderen Aufmerksamkeit des wohl berühmtesten Sohnes des Stadtteils erfreut.

Sollte Erdoğan am Sonntag – oder bei einer allenfalls nötigen Stichwahl – gewinnen und 2019 noch einmal für eine weitere fünfjährige Amtszeit als Staatschef wiedergewählt werden, dann würde er bis zum Jahr 2024 an der Spitze des Staates bleiben. Er wäre damit auch Präsident, wenn die türkische Republik 2023 ihr hundertjähriges Gründungsjubiläum begeht. Ausgerechnet der prononciert religiöse Erdoğan würde dann die vom prononciert säkularen Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republik repräsentieren – und seinen Anspruch auf einen Platz in den Geschichtsbüchern neben Staatsgründer Atatürk unterstreichen.

Das hätte bei Erdoğans Geburt vor 60 Jahren niemand für möglich gehalten. Als Sohn einer landflüchtigen Familie aus der Schwarzmeer-Provinz Rize in Kasimpaşa geboren, verkaufte der heutige Ministerpräsident als kleiner Bub Sesamkringel auf der Straße des Viertels, um seinen Teil zum kargen Familieneinkommen beizutragen. Erdoğans Erziehung war streng. Vor einigen Jahren berichtete er, wie er einmal von einer Nachbarin den Hintern versohlt bekam und darauf ein paar Flüche ausstieß – mit der Folge, dass er von seinem Vater zur Bestrafung an den Füßen mit dem Kopf nach unten aufgehängt wurde. Ein Onkel habe sich schließlich seiner erbarmt und ihn aus der misslichen Lage gerettet.

Im Windschatten des Alt-Islamisten

Beim lokalen Fußballklub Erok Spor machte Erdoğan als Angreifer auf sich aufmerksam und dachte an Höheres. Den Gedanken an eine Karriere als Profifußballer – der damals bereits fromme Muslim wurde in seiner Jugend „Imam Beckenbauer“ genannt – verwarf er auf Druck seines Vaters. Stattdessen ging er in die Politik und stieg zum Nachwuchspolitiker im Windschatten des Islamisten Necmettin Erbakan auf.

Als Erdoğan 1994 zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde, hatten auch seine säkularen Gegner sein Talent erkannt und versuchten, den Höhenflug des begnadeten Populisten zu bremsen. Sie brachten ihn 1998 wegen religiöser Volksverhetzung mehrere Monate ins Gefängnis, doch aufhalten konnten sie den Mann aus Kasimpaşa nicht. 2002 gewann die von ihm gegründete Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung die Parlamentswahl, im März 2003 wurde Erdoğan schließlich auch Premier, nachdem extra für ihn ein Verfassungsgesetz geändert worden war, um die einstige Verurteilung zu lebenslangem Politikverbot zu neutralisieren.

Das säkulare Establishment in Justiz, Bürokratie und Militär wehrte sich weiter gegen den Aufstieg Erdoğans und der frommen Anatolier, die unter der AKP-Regierung die alten Eliten der Türkei verdrängten. „Schwarze Türken“ gegen „weiße Türken“ war das Schlagwort. Gegner nannten den Premier „Kasimpaşali“, den „Mann aus Kasimpaşa“, um an seine kleinbürgerliche Herkunft zu erinnern und ihn wegen seiner oft drastischen Wortwahl als Proleten hinzustellen. Erdoğan nahm die Beschimpfung als Kompliment auf. Noch heute nennt er sich selbst stolz selbst einen „Kasimpaşali“.

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2007 setzte Erdoğan seinen Freund Abdullah Gül als Staatspräsidenten gegen die säkularen Kräfte durch, vier Jahre später entmachtete er die Militärs. Seine Popularität gründet sich bis heute nicht zuletzt auf seine wirtschaftlichen Erfolge. Unter der AKP-Regierung hat sich das Bruttoinlandsprodukt der Türkei verdreifacht.

Trotz aller politischen Siege hat sich bei Erdoğan eines nicht verändert: Nach wie vor sieht er sich selbst und „seine“ Leute als Opfer von Unterdrückung und Arroganz. Diese Weltsicht erstarrte im Laufe der Jahre zu der Überzeugung, dass jede Gegnerschaft gegen die AKP-Regierung von dunklen Motiven getragen sein muss. Die Gesellschaft für Türkische Sprache definiert den Begriff des Staatsstreiches inzwischen ganz offiziell als Versuch, „die Regierung durch Gewalt oder demokratische Mittel zum Rücktritt zu zwingen“: Nach diesem Verständnis ist jede Kritik an der Regierung als Putschversuch auslegbar.

Verschwörungstheorien

Und genau so handelt Erdoğan inzwischen, so absurd dies von außen erscheinen mag. Hinter den Protesten von Umweltschützern und unzufriedenen Bürgern um den Istanbuler Gezi-Park im vergangenen Jahr ortete er eine internationale Verschwörung gegen die Türkei. Und viele in Kasimpaşa pflichteten ihm bei. Als Istanbuler Staatsanwälte im Dezember mit Korruptionsvorwürfen gegen Erdoğans Regierung und die Familie des Premiers an die Öffentlichkeit gingen, sprach Erdoğan von einem Coup der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der die AKP lange unterstützt, sich dann aber von der Regierung abgewandt hatte.

Als Präsident will Erdoğan nun seinen Aufstieg vollenden und mit neuer Härte gegen seine tatsächlichen oder angeblichen Gegner vorgehen. Anders als Gül will er sich nicht mit den repräsentativen Aufgaben des Amtes zufriedengeben, sondern vom Präsidentenpalast aus das Land regieren, obwohl er bei einem Wahlerfolg am Sonntag als Premier, Parlamentsabgeordneter und AKP-Vorsitzender zurücktreten muss. Kritiker befürchten, dass die Türkei damit zu einem Staat wird, in dem alles von einem einzigen Mann abhängt. Erdoğan wolle „eine Art Sultan werden“, schrieb der Istanbuler Politologe Sahin Alpay in der Gülen-Zeitung „Today's Zaman“.

Korruptionsvorwürfe perlen ab

In Kasimpaşa und Umgebung wäre das vielen recht. Erdoğans Leistungen in seiner Regierungszeit sind für die Menschen in diesem Teil Istanbuls der Beweis für seine Eignung zum Präsidenten. Und auch die Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung perlen an dem Mann aus Kasimpaşa ab, überhaupt in seinem Heimatviertel. Auch AKP-Wähler bezweifeln zwar nicht, dass es Korruption in den Reihen der Regierung gibt. Doch sie bezweifeln sehr wohl, dass diese Korruption dem Land schadet. „Stellen Sie sich einmal einen See vor“, sagt ein junger Erdoğan-Anhänger. „Wenn da jemand kommt und sich mit einem Löffel etwas Wasser herausholt, ist das für den See doch nicht schlimm, oder?“

Kandidaten

Recep Tayyip Erdoğan Der Premier ist der haushohe Favorit bei der Wahl am Sonntag.

Ekmeleddin Ihsanoğlu Der Islamgelehrte wurde von Kemalisten und Nationalisten aufgestellt.

Selahattin DemirtaşDer Kurdenpolitiker präsentierte sich als säkulare Alternative.

APA (2), Reuters

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2014)

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