Amerika zaubert sich aus der Krise

Job seekers stand in line to attend the Dr. Martin Luther King Jr. career fair held by the New York State department of Labor in New York
Job seekers stand in line to attend the Dr. Martin Luther King Jr. career fair held by the New York State department of Labor in New YorkREUTERS
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Allen geopolitischen Krisen zum Trotz präsentieren die USA beeindruckende Wachstumszahlen. Aber den Großteil des Aufschwungs verdankt das Land gewitzten Statistikern.

Nahost-Konflikt? Irak-Krieg? Russisches Importverbot? Börsenflaute? Alles kein Thema, so scheint es. Sieben magere Jahre nach dem Ausbruch der Wirtschaftskrise zeigen die Vereinigten Staaten dem Rest der Welt wieder einmal, wie ein Aufschwung aussehen könnte. Um stolze vier Prozentpunkte legte die amerikanische Volkswirtschaft im zweiten Quartal zu, verkündete das US-Wirtschaftsministerium vor wenigen Tagen. Das in einer Zeit, in der auf der anderen Seite des Atlantiks Schwergewichte wie Italien in die Rezession abgleiten, sich das Wirtschaftsklima im Euroraum zum ersten Mal seit 2012 wieder eintrübt und selbst die deutsche Industrie den größten Auftragseinbruch seit drei Jahren hinnehmen muss.

Kreative Buchhaltung. Wie schaffen es die Amerikaner in dieser Lage, Wachstumsraten herbeizuzaubern, die zumindest an eine gesunde Wirtschaftsentwicklung erinnern? Zaubern ist da leider schon ein gutes Stichwort. Denn obwohl sich die US-Wirtschaft stärker entwickelt als die europäische, entpuppt sich das amerikanische Wachstumswunder bei näherem Hinsehen in weiten Teilen als Taschenspielertrick.

Da wären zunächst die enormen Summen an willkürlich geschaffenem Geld, die von der US-Notenbank Fed seit Ausbruch der Krise in den Markt gepumpt wurden, um die Wirtschaft zu stimulieren. Den Rest erledigen die Volkswirte in den US-Statistikabteilungen mit ihrer bekannt kreativen Buchführung. Sie wenden bei der Ermittlung der gesamten Wirtschaftsleistung traditionell das hedonische Verfahren an, das die Qualitätsverbesserung von Produkten als wachstumsfördernd monetarisiert. Erhält etwa ein Smartphone einen um 30 Prozent besseren Bildschirm als das Vorjahresmodell, geht es mit einem deutlich höheren Preis in die BIP-Berechnung ein. Selbst dann, wenn der tatsächliche Preis im Geschäft gesunken ist. Auch Schwarzarbeit und fiktive Mieten von Hauseigentümern blasen das BIP künstlich auf.

All das hat sich Europa aber längst von den USA abgeschaut. Auch die EZB hat – in weit geringerem Maß – für Liquidität an den Märkten gesorgt. Und eine Änderung der BIP-Berechnung wird ab Herbst auch das Bruttoinlandsprodukt vieler EU-Länder um bis zu fünf Prozent nach oben katapultieren – ohne, dass es auch nur einem einzelnen Bürger deswegen besser gehen wird.

Jobsuche aufgegeben. Der simpelste Kunstgriff der Amerikaner bleibt Europa bisher jedoch verwehrt: Amerikanische Wachstumsraten, wie das Vier-Prozent-Plus des Wirtschaftsministeriums, sind auf ein Jahr hochgerechnet. Das Land gibt also nach jedem Quartal das Wachstum an, das in einem Jahr erreicht würde, wenn die Wirtschaft nun mit dem gleichen Tempo wachsen würde. Da die USA aber einen sehr schwachen Jahresbeginn erwischt haben, sind im zweiten Quartal deutliche Aufholeffekte enthalten. Der starke Anstieg wird nicht das ganze Jahr anhalten. Nach europäischer Methode, in der die Veränderung des BIP gegenüber dem Vorquartal nicht auf das Jahr hochgerechnet wird, ist die amerikanische Wirtschaft im zweiten Quartal nur noch um ein Prozent gewachsen. Das klingt auch noch vergleichsweise solide – ist aber weit entfernt von den berichteten Wunderzahlen.

Aber auch abseits des BIP hatten die USA zuletzt einige Erfolgsmeldungen zu verlauten: Amerikaner kaufen so viele Autos wie selten zuvor. Die Ausrüstungsinvestitionen legten um sieben Prozent zu, der private Wohnungsbau um 7,5 Prozent. Auch die öffentliche Hand gab mehr aus. Damit das notwendige Kleingeld für den Kaufrausch weiter vorhanden ist, hat die Fed versichert, den Leitzins auch nach Ende der Anleihekäufe für „beträchtliche Zeit“ nahe null Prozent zu belassen. Die Arbeitslosenquote pendelte sich im Juli bei 6,2 Prozent ein. Vor einem Jahr lag sie noch bei 7,3 Prozent. Die US-Unternehmen schufen mehr als 200.000 neue Stellen.

Aber auch hier lohnt es sich, genauer hinzusehen: So ist die Zahl der Vollzeitstellen in den USA seit Ausbruch der Krise um mehr als 3,5 Millionen geschrumpft. Und auch die sinkende Arbeitslosenquote ist nur zum Teil der anziehenden Konjunktur zu danken. Die Quote sinkt auch deshalb, weil immer mehr Amerikaner die Hoffnung auf einen Job komplett aufgeben und nicht mehr nach Arbeit suchen. Seit dem Jahr 2009 war die Zahl jener Arbeitslosen, die nach einem Monat die Jobsuche aufgegeben haben, fast in jedem Quartal höher, als die Zahl derer, die in diesem Zeitraum einen neuen Job gefunden haben.

Aufräumarbeiten. All das bedeutet, dass die Zahlen über die Wirtschaftsleistung von Staaten zumeist ebenso schöngefärbt sind, wie Wachstumswerte oder Arbeitslosenstatistiken. Echtes Wachstum ist in den Industrienationen schon seit Längerem Mangelware. Auch die USA sind weit davon entfernt, die Krise, die im Jahr 2007 ihren Anfang genommen hat, überwunden zu haben. Aber im Vergleich zu Europa verkauft sich das Land um einiges besser.

Bleibt abzuwarten, wie lang das noch gelingt. Denn noch ein Schicksal teilen auch die schönsten Wachstumsraten dies- und jenseits des Atlantiks: Sie halten selten länger als ein paar Monate. Der Großteil der notwendigen Daten und Fakten trudeln mit so großer Verspätung ein, dass die Ökonomen ihre Schätzungen aus der Vergangenheit kräftig revidieren müssen.

So auch das US-Wirtschaftsministerium. In derselben Presseaussendung, in der es den Anstieg von vier Prozent feierte, schraubte das Ministerium das offizielle Wachstum zwischen 2011 und 2013 von 2,2 auf zwei Prozent zurück. Je mehr Zeit vergeht, desto heftiger fällt die nachträgliche Bereinigung aus. Zu Jahresbeginn 2002 durfte sich der damalige US-Präsident George W. Bush etwa noch über ein offizielles Quartalswachstum von 5,8 Prozent freuen. Heute, zwölf Jahre später, haben die Statistiker die einstige Jubelmeldung bei ihren historischen Aufräumarbeiten mittlerweile schon wieder auf realistischere 3,7 Prozent Plus zurechtgestutzt.

In Zahlen

4Prozent

BIP-Wachstum verkündeten die USA für das zweite Quartal. Das stimmt aber nur, weil die USA die Quartalszahlen traditionell auf das ganze Jahr hochrechnen. Die EU tut das nicht.

1Prozent

BIP-Wachstum hätten die europäischen Statistiker bei der gleichen Entwicklung wie in den USA zu Protokoll gegeben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.08.2014)

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