Die Präsidentenwahl hat der Premier gleich in der ersten Runde gewonnen - doch jetzt kommen schwierige Aufgaben auf ihn zu. Ein Überblick über die Problemzonen der Türkei.
Am unbedingten Willen von Premier Recep Tayyip Erdoğan, am Sonntag zum ersten direkt gewählten Präsidenten der Türkei zu werden, gab es keinen Zweifel. Schon eher konnte man sich fragen, warum er diese Position angestrebt hat, steht das Land doch vor gewaltigen Problemen. Problemen, die zum Teil auch auf das Konto der Regierung gehen, der er elf Jahre lang vorgestanden ist.
1.Wirtschaft. In den Boomjahren war leicht regieren. Doch der Aufschwung stockt.
Der starke Wirtschaftsboom der vergangenen Jahre bildete das Fundament für die Wahlsiege von Premier Recep Tayyip Erdoğan. Wachstumsraten von zeitweise mehr als neun Prozent brachten Millionen Türken einen bis dahin nicht gekannten Wohlstand. Kritiker bemängeln jedoch, dass die Regierung sich zu sehr auf den Zufluss ausländischen Kapitals verlassen hat, statt strukturelle Reformen etwa im Bildungssystem anzugehen, um die Wirtschaft auf lange Sicht zu stärken. Zuletzt sind die Wachstumsraten stark gesunken. Gleichzeitig gibt es Anzeichen, dass sich Anleger aus der Türkei zurückziehen könnten, da im Westen die Zinsen steigen. Zudem geht der private Konsum zurück. Als Präsident wird Erdoğan vor der Aufgabe stehen, das Wachstum zu stützen. Bisher versuchte er das mit milliardenschweren Infrastrukturprojekten wie einem neuen Istanbuler Flughafen. Doch gegen einige Vorhaben regt sich Widerstand in der Bevölkerung.
2. Außenpolitik. Nach anfänglichen Erfolgen steht man heute vor einem Trümmerhaufen.
Als Staatsschef wird sich Erdoğan gleich mehreren brandgefährlichen Problemen an den türkischen Südgrenzen widmen müssen. Am dringendsten ist die Frage nach dem Umgang mit der Jihadisten-Gruppe IS im Irak und in Syrien. IS-Vertreter haben mehrmals mit Anschlägen in der Türkei gedroht. Erdoğans Bewegungsspielraum ist aber begrenzt, da IS-Kämpfer im Irak seit fast zwei Monaten knapp 50 türkische Geiseln in ihrer Gewalt haben. Er steht auch vor der Frage, wie es mit den zerrütteten Beziehungen der Türkei zum Irak, zu Syrien, Israel und Ägypten weitergehen soll: Ankara ist in der Region isoliert. Selbst Erdoğans Verhältnis zu US-Präsident Barack Obama ist so abgekühlt, dass die beiden nicht einmal mehr miteinander telefonieren. Eine Kehrtwende ist von Erdoğan allerdings nicht zu erwarten, denn er ist davon überzeugt, dass sein Kurs der richtige ist – und dass alle anderen falschliegen.
3. EU-Annäherung. Unter Erdoğan begannen die Verhandlungen. Doch sie sind in der Sackgasse.
Seit 2005 verhandelt die Türkei über einen Beitritt zur EU, doch große Fortschritte bleiben aus. Schon seit Monaten tut sich gar nichts mehr. Von der einstigen Euphorie der Türken über die EU-Perspektive ist wenig übrig, selbst in Erdoğans Beraterkreis macht sich EU-Feindlichkeit breit. Wirtschaftsberater Yiğit Bulut macht sich ganz offen für ein Ende der Beziehungen zur EU stark. Bulut argumentiert, die EU werde künftig nicht mehr zu den wichtigen Akteuren der Weltpolitik gehören. Erdoğan selbst hat diese These noch nicht vertreten, doch er beschwert sich gern über die Europäer. So wirft er ihnen vor, sich in innere Angelegenheiten der Türkei einzumischen, etwa bei den Gezi-Protesten 2013. Erdoğan dürfte als Präsident am EU-Weg festhalten, aber nicht allzu viel für eine Belebung der Verhandlungen tun.
4. Innenpolitik. Ausgerechnet der Polarisierer Erdoğan muss versuchen, das Land zu einen.
Hier liegt die vielleicht schwierigste Aufgabe für den Präsidenten Erdoğan: Im Wahlkampf versprach der 60-Jährige den Beginn einer neuen Ära, in der für gegenseitige Anfeindungen kein Platz mehr sei. Als Staatschef hätte er zudem die Aufgabe, alle Türken zu vertreten. Das Problem ist, dass die Rolle des Landesvaters, der in allen Gesellschaftssegmenten Vertrauen genießt, sehr schlecht zu Erdoğans ruppigem Stil passt. Er ist selbst führend dafür verantwortlich, dass die Gesellschaft heute so tief gespalten ist wie nie zuvor. Regierungskritische Demonstranten beschimpfte er als „Plünderer“, Polizisten und Staatsanwälten wirft er vor, im Auftrag des Predigers Fethullah Gülen parallele Strukturen im Staatsapparat aufzubauen. Erdoğan müsste das Kunststück fertigbringen, sich über Nacht vom Spalter zum Versöhner zu wandeln. Es wäre eine große Überraschung, wenn dies tatsächlich geschähe.
5. Kurden: Erdoğan kann unbestreitbare Erfolge vorweisen. Gelöst ist der Konflikt aber nicht.
Erdoğan hatte es vor zwei Jahren als historisch bezeichnet, und tatsächlich war der Schritt, die kurdische Sprache in den Schulen zuzulassen, ein beachtliches Novum in der Geschichte der Republik. Während der Regierungszeit Erdoğans wurde der kurdischen Minderheit im Land - Schätzungen zufolge gehören ihr 20 Prozent der Bevölkerung an - weitreichende Rechte gewährt: Kurdische Radio- und Fernsehsendungen wurden zugelassen, an den Universitäten wird die Sprache gelehrt, der bewaffnete Konflikt mit der kurdischen PKK wurde zumindest auf dem Papier gelöst. Ganz vom Tisch ist der Konflikt freilich nicht, der (kurdische) Osten des Landes kann mit dem rasanten Aufschwung des Westens nicht mithalten. Erdoğans Beliebtheit unter der kurdischen Bevölkerung hängt auch damit zusammen, dass viele Kurden wie Erdoğan auch Sunniten - und gläubig sind. Die Lösung des drei Dekaden andauernden Konflikts ist für die Kurden ein wichtigerer Grund, für die AKP zu stimmen. Dass Erdoğan auf den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan zugegangen ist, verzeihen ihm wiederum viele seiner Anhänger nicht.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2014)