Türkei: Die Sehnsucht nach dem starken Mann

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Recep Tayyip Erdoğan hat dem Land wieder Selbstvertrauen eingehaucht und zu neuer Geltung auf der Weltbühne verholfen. Deshalb hat das Volk ihn nun auch zum Staatspräsidenten gewählt. Eine Reportage vom Bosporus.

Istanbul. Das Schiffshorn tutet kurz, die türkische Fahne strafft sich in der Brise, und die Fähre legt vom europäischen Ufer von Istanbul ab, um auf den Bosporus hinauszustechen. Von seiner Bank im Heck blickt Muharrem Aygünes auf das asiatische Ufer, wo ihn seine Frau bereits im Fährhafen von Üsküdar erwartet. Der 35-Jährige hat sich den Nachmittag freigenommen von seiner Arbeit als Bauingenieur, um sie zu einem Kontrolltermin im Krankenhaus zu begleiten; die beiden erwarten demnächst ihr zweites Kind.

Aygünes ist ein zufriedener Mann und blickt zuversichtlich in die Zukunft – an diesem Montag mehr denn je. Denn die Türkei hat einen neuen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, und der werde die Türkei zu ihrem rechtmäßigen Platz in der Welt führen, hofft Aygünes. Ein starker Präsident, eine starke Türkei – das will er.

Dass Erdoğan sich nicht mit der zeremoniellen Rolle bisheriger Präsidenten begnügen will, findet Aygünes völlig in Ordnung. Dessen Pläne, die parlamentarische Demokratie der Türkei zu einem Präsidialsystem umzubauen, haben seine Unterstützung. In seinem Job komme er auf Montage viel herum in der Welt, sagt der Ingenieur: Überall stiegen Kurs und Ansehen der Türkei, seit Erdoğan das Land aus der Dritten Welt herausgeführt habe in den Kreis der führenden Volkswirtschaften der Welt.

Westliche Kritik perlt ab

Eine Viertelstunde dauert die Fahrt von Europa nach Asien, dann dreht die Fähre im Wasser bei und legt in Üsküdar an. Im Ausland wage er sich abends nicht aus seinem Hotel, erzählt Aygünes während des Anlegemanövers noch, doch in Istanbul könne er die ganze Nacht feiern gehen. Mit der westlichen Kritik an Erdoğans autoritärem Stil könne er nichts anfangen, sagt der Ingenieur, bevor er im Gewühl auf dem Kai verschwindet.

Der Fährhafen von Üsküdar ist der wohl belebteste Ort von Istanbul. Städtische und private Fähren legen hier an, Busse fahren von dem Hafen in alle Richtungen ab. Neuerdings taucht hier auch die Marmaray-Bahn aus der Tiefe auf und spuckt per Rolltreppe alle sieben Minuten hunderte Passagiere aus, die durch den neuen Tunnel minutenschnell unter dem Bosporus durchgerast sind und nun blinzelnd ins gleißende Sonnenlicht stolpern.

Eines der Prestigeprojekte aus der Ministerpräsidenten-Ära von Erdoğan ist dieser Marmaray-Tunnel, den er im vergangenen Herbst persönlich eröffnete. Mehr als 100.000 Passagiere pro Tag nutzen die Bahn unter dem Bosporus inzwischen und ersparen sich damit teils stundenlange Umwege und Stauzeiten auf den überlasteten Brücken.

Einer der Passagiere ist am Tag nach der Präsidentenwahl der Buchhalter Mesut Birdal, der sein Auto in die Werkstatt gebracht hat und nun auf dem Weg zur Arbeit ist. Auch Birdal ist glücklich über seinen neuen Präsidenten, wenngleich er versteht, dass er den Europäern nicht gefällt. „Erdoğan macht eben Politik im osmanischen Stil“, sagt Birdal vergnügt. „Der haut mit der Faust auf den Tisch, und dann wird das so gemacht.“

„Erdoğan brachte Freiheit“

Vor allem aber habe er Erdoğan seine Freiheit zu verdanken, sagt Birdal. „Vor zwölf Jahren, bevor Erdoğan an die Spitze der Regierung kam, konnte man in der Türkei ja nicht den Mund aufmachen“, sagt der 35-Jährige. Politischer und psychologischer Druck habe auf Menschen wie ihm gelastet, die konservativ dächten. „Heute dagegen hat jeder türkische Bürger das Recht auf persönliche Beschwerde beim Verfassungsgericht“, das habe erst Erdoğan eingeführt.

Dass der scheidende Regierungschef und angehende Staatspräsident auch Freiheiten beschnitten habe, weist Birdal zurück – die zeitweise Sperrung von Twitter etwa sei nur deshalb erfolgt, weil das Unternehmen sich geweigert habe, türkischen Nutzern dieselben Beschwerderechte einzuräumen wie in anderen Ländern.

Für eine Frage ist noch Zeit, bevor der Zug sein Ziel erreicht: Wie steht er zum Angebot der Oppositionsparteien und deren Kandidaten Ekmeleddin Ihsanoglu? „Ach was, die Opposition gibt es doch gar nicht“, sagt Birdal, während die Bahn die Fahrt verlangsamt. „Die machen immer noch die gleiche Politik wie in den 1940er- oder 1960er-Jahren und warten darauf, dass die Armee eingreift“, fügt er hinzu. „Aber die Zeiten sind endgültig vorbei“, ruft er über die Schulter, bevor er von der Menge mitgerissen und auf den Bahnsteig gespült wird.

Ein Klarer Sieg

Der türkische Premier Erdoğan hat die Präsidentenwahl am Sonntag klar mit 51,76 Prozent der Stimmen gewonnen. Die anderen Kandidaten kamen auf 38,44 bzw. 9,76 Prozent. Besonders stark punktete Erdoğan bei Auslandstürken etwa in Deutschland und Österreich: Dort fuhr er laut Angaben der türkischen Wahlbehörde rund 70 bis 80 Prozent der abgegebenen Stimmen ein. Weltweit gingen aber nur 8,7 Prozent der Auslandstürken zur Wahl.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.08.2014)

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