Erwartete Abgründe in Ulrich Seidls Keller

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Filmfestival Venedig. Modelleisenbahn und Hitlerbild, Domina und Opernsänger: Ulrich Seidl findet in seinem Dokumentarfilm „Im Keller“ wieder einmal diverse skurrile Obsessionen. Amüsant, aber etwas flau.

Woanders wäre ein Titel wie „Im Keller“ in erster Linie eine soziale Metapher für ökonomisch Gescheiterte. Kommt der Film aber aus Österreich, dem Land der Fälle Josef Fritzl und Natascha Kampusch, ist ihm volle Medienaufmerksamkeit gewiss. Denn hier ist das Untergeschoß weit mehr als nur eine Metapher. Wer weiß, was man hier in den Kellern noch alles findet? Und wenn der Regisseur dazu noch Ulrich Seidl heißt, steigert sich die Erwartung ähnlich wie vor einer Geisterbahnfahrt zu einer Art wohligen Gruselns. Schließlich hat Seidl mit zahlreichen Dokumentarfilmen („Tierische Liebe“) und Spielfilmen („Hundstage“) den zähen Willen bewiesen, auch dann nicht wegzuschauen, wenn es unappetitlich wird oder sich die Menschen von ihrer erbärmlichsten Seite zeigen.

Dass „Im Keller“, den Seidl nun außerhalb des Wettbewerbs auf dem 71.Filmfestival von Venedig präsentiert hat, gar nicht von Josef Fritzl handelt, dürfte für manche fast eine Enttäuschung darstellen. Mit diesem Film kehrt Seidl nach seiner Spielfilmtrilogie „Paradies: Liebe“, „Paradies: Glaube“, „Paradies: Hoffnung“ zum Genre des Dokumentarfilms zurück. In der „Paradies“-Trilogie ging er zuletzt den menschlichen Abgründen nach, die sich rund um Themen wie Sextourismus, Bigotterie, Teenagerliebe und Fettleibigkeit auftun. Es waren für Seidl erstaunlich milde und verständnisinnige Filme, die vor allem für ihre weiblichen Hauptfiguren eher Mitfühlen als zynisches Betrachten einforderten. Und es waren Filme, die außer der Sprache ihrer Charaktere nur wenig spezifisch Österreichisches zur Schau stellten.

Plötzlich schnappt die Schlange zu!

Von der ersten Einstellung an ist man mit „Im Keller“ nun wieder bei jenem Ulrich Seidl, der so gern das Abgründige in der – österreichischen – Seele auf der Leinwand herausarbeitet. Der Film beginnt mit Aufnahmen von Eigenheimen, die wie Trutzburgen von Hecken eingerahmt sind. Dann begibt sich die Kamera (in bewährt ruhig-lakonischer Weise geführt von Martin Gschlacht) in einen Keller, in dem ein Mann vor einem Riesenterrarium sitzt und darauf wartet, dass die Schlange, eine ausgewachsene Python, die verabreichte Maus zur Strecke bringt. Starr hält die Kamera auf das eigenartige Stillleben. Plötzlich schnappt die Schlange zu. Es ist das Seidl'sche Filmkonzept in Kurzform.

In seinen langen, wie mit Metronom getakteten Einstellungen, die den beobachteten Protagonisten viel Raum lassen, sich zu entfalten und entspannt ihre manchmal klugen, manchmal krausen Selbstbetrachtungen zu äußern, liefert „Im Keller“ ganz das Erwartete. Fast wirkt es wie ein erstes Brainstorming zum Thema: Da gibt es den heimlichen Opernsänger, der mit nicht besonders guter Stimme ins Gewölbe knödelt, da gibt es die Schützen, die sich im Scharfschießen und Ausländerbeschimpfen üben, das gibt es den Blechbläser mit Nazi-Fahne und Führer-Porträt („das schönste Hochzeitsgeschenk“) im Hintergrund. Es gibt gleichgültig schauende, rauchende Teenager, gemütlich im Berghüttenstil ausgestattete Partykeller und natürlich eine Modelleisenbahn. Und das, worauf alle warten: Menschen, die das Untergeschoß zu allerlei sadomasochistischen Praktiken nutzen. Haarige nackte Männer, die mit der Zunge Toiletten putzen und sich von der „Herrin“ den Penis mit Gewichten beschweren lassen. Nicht mehr ganz junge Damen, die mit Lust die Schläge zählen, die sie auf den nackten Hintern bekommen. Und noch ein paar Szenen in ähnlichem Stil.

Die Offenheit, mit der die Protagonisten sich währenddessen vor diversen Kellereinrichtungen gegenüber der Kamera erklären, sorgt für einige Pointen. Oft aber hat man den Eindruck, dass sie sich der eigenen Komik keineswegs bewusst sind. Die Schützen, die sich über „orientalische Logik“ ereifern, weil ein in Österreich geborener Mann türkischer Herkunft im Fußball für „Türkiye“ fiebert; die Domina in roten Netzstrümpfen – „Früher war ich im Verkauf“ –, die als einfaches Gemüt rüberkommt; der Hitler-Verehrer, der offenbar keiner Fliege etwas zuleide tun kann, zumal er ein gnadenloser Säufer ist: Das alles sind Momente, in denen der Zuschauer sich lächelnd zurücklehnen kann, weil er sich klüger fühlt als die Gezeigten. Und dementsprechend gut kam der Film auch beim Publikum am Lido an.

Tatsächlich ist „Im Keller“ wohl einer der amüsantesten Filme Seidls bisher, aber das ist nicht unbedingt ein Kompliment. Eine Masochistin in Fesselmontur, die von ihren Erfahrungen mit gewalttätigen Ehemännern und ihrem Engagement für geschlagene Frauen berichtet – die Kontraste, die der Film zwischen der scheinbaren Harmlosigkeit der Menschen und ihren im Keller verwirklichten Obsessionen zeichnet, sind diesmal zu flau geraten. Dem wahren Grauen eines Fritzl-Falls ist mit einem launigen Dokumentarfilm wie diesem nicht beizukommen.

Ein paar wirklich unheimliche Aufnahmen aber gibt es: In ihnen holt eine Frau aus den Kartons ihrer Kellerregale Puppen heraus, die echten Babys täuschend ähnlich sehen. Die Frau erklärt nichts, sondern flüstert „ihren“ Säuglingen nur zärtliche Worte zu, herzt und streichelt sie. Es ist wirklich total erschreckend!

REGISSEUR IM ORIGINALTON

Bei der Pressekonferenz in Venedig erklärte Ulrich Seidl, seine Figuren seien „sehr authentische Menschen“, die ihre Obsessionen vor der Kamera zeigen, er habe „sie auch entsprechend ernst genommen“. Den Blechbläser mit Hitlerbild habe er durch Zufall entdeckt: „Dieser Herr ist ein äußerst sympathischer Mensch.“ Er wolle „die Normalität zeigen, die in uns allen steckt. Niemand ist gefeit gegen Rassismus und Sexismus. All das steckt in uns. Jeder von uns ist nicht weit entfernt von den Abgründen, die ich thematisiere.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.08.2014)

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