Philosoph Peter Bieri : »Jeder soll sich ertappt fühlen«

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Der Philosoph Peter Bieri hat ein Buch über die Würde, »ein Vademecum für das Nachtkästchen«, geschrieben. Dafür erhält Pascal Mercier, so sein Pseudonym als Schriftsteller, den Essay-Preis Tractatus des Philosophicum Lech. Weshalb es befreiend ist, Gedanken zur Sprache zu bringen, und der Verlust der Würde lebensbedrohlich ist, darüber sprach er mit der »Presse am Sonntag«

Ich habe Ihr Buch „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt menschlicher Würde“ gelesen. Es ist mir sehr nahegegangen. Manchmal so sehr, dass ich nicht weiterlesen konnte. Sie nähern sich dem Thema nämlich nicht abstrakt, sondern entwickeln anhand vieler Beispiele aus dem Alltag und der Literatur eine Vorstellung von Würde. Man kann sich beim Lesen seiner eigenen „Würde-Vergangenheit“ nicht entziehen.

Peter Bieri: Es freut mich, wenn Sie diese Erfahrung gemacht haben, dann hat das Buch bewirkt, was es bewirken soll. Jeder soll sich darin mit seiner Lebens- und Erfahrungsgeschichte wiedererkennen – sozusagen ertappt fühlen. Das Buch ist auch gar nicht dafür gedacht, es auf einmal durchzulesen. Es ist eine Art Handbuch des Lebens, ein Vademecum für den Nachttisch.


Es ist Ihnen nicht darum gegangen, eine Theorie der Würde vorzutragen, sondern darüber nachzudenken, was ein Leben in Würde ausmacht.

So ist es. Wenn man unbedingt sagen will, was Würde ist, so würde ich sagen: Sie ist eine Art und Weise, das Leben zu leben. Im Unterschied zu jenen, die versucht haben, die Würde als eine metaphysische Eigenschaft aufzufassen, wie das insbesondere die christlich-theologische Tradition getan hat. Sie versteht Würde als eine Eigenschaft, die uns Gott verliehen hat und die unveräußerbar ist. Das ist eine mächtige Tradition. Das Problem ist, dass Würde hier sehr abstrakt bleibt. Man versteht nie genau, was das für eine heilige, aber undurchschaubare Eigenschaft ist. Davon wollte ich weg.


Wie kam es dazu, dass Sie sich so intensiv mit dem Thema „Würde“ auseinandergesetzt haben?

Es gibt in einem Leben viele unterschiedliche Erfahrungen, bei denen man zusammenzuckt und merkt: Jetzt geht es um etwas wirklich Wichtiges, es steht viel auf dem Spiel. Interessant ist, dass man in solchen Situationen in Gedanken häufig auf den Begriff der Würde trifft. Ich hatte das über die Jahre oft. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, hier vieles nicht zu verstehen. Irgendwann habe ich mich aufgemacht, meine Notizen zu diesen Erfahrungen zu sammeln und eine Übersicht, eine Art Landkarte der Würdeerfahrungen, herzustellen. So kann man auch am besten die Wege beschreiben, wie man von der einen Erfahrung zu der nächsten kommt. So war die Vorgeschichte.


Dieses Zusammenzucken, dieses Gefühl von „hier stimmt etwas nicht“, das Sie gerade beschrieben haben, hat jeder von uns schon erlebt. Meist bleibt man mit dieser Intuition zurück. Sie in Worte zu fassen, ist noch einmal etwas ganz anderes.

Wenn die Philosophie etwas kann, dann das: in grundlegende Erfahrungen des Menschen Licht bringen, indem sie begriffliche Mittel zur Verfügung stellt, um sich diese Erfahrungen gedanklich zu vergegenwärtigen. Die andere Möglichkeit der Vergegenwärtigung ist die poetische. Das macht die Literatur. Dabei geht es aber nicht, wie in der Philosophie, um analytische Übersicht, sondern um poetische Dichte. Beiden Formen der Vergegenwärtigung ist gemeinsam, dass sie, anstatt Erfahrungen nur geschehen zu lassen und zu erleiden, den Versuch machen, sie zur Sprache zu bringen.


Was bewirkt das zur Sprache bringen?

Es bewirkt eine Distanz, die Distanz der Artikulation. Wenn es einem auf einmal gelingt, eine besonders bedrängende Erfahrung zur Sprache zu bringen, empfindet man das unweigerlich als eine Befreiung. Denn man ist nun nicht mehr bloß das Opfer, sondern gewinnt gegenüber dieser Erfahrung Autorität.


Genau die richtigen Worte zu finden, ist nicht leicht. Meistens schreibt man nur das, was man kann, nicht das, was man möchte.

(Lacht.) Über das eigene Können kann man sich auch täuschen. Manchmal kann man mehr, als man dachte. Aber das Wichtigste ist: Es ist eine beglückende Erfahrung, für etwas, was einem wichtig ist, die richtigen Worte gefunden zu haben. Das ist etwas Kreatives. Ich konnte mir nie vorstellten, ein ganzes Leben zu leben, ohne Sätze darüber zu lesen oder zu schreiben. Die Sprache macht uns zu Wesen, die einer viel größeren Lebendigkeit fähig sind als Wesen, die nur sinnliche Erfahrungen machen und keine Sprache haben.


Zurück zur Würde: Ihr Verlust ist nicht irgendeine Bedrohung, sondern eine existenzielle.

Ja, das hat mich sehr beschäftigt. Menschen erleben den unwiderruflichen Verlust ihrer Würde als etwas, was sie dazu bringen kann, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Es gibt Therapeuten, die sich besonders damit beschäftigen, solche Menschen zu sich selbst zurückzuführen. Es steht da etwas sehr Tiefes auf dem Spiel, wenn Würde – etwa im Sinne der Selbstständigkeit oder der Intimität – verloren geht.


Wie behandeln mich andere? Wie begegne ich anderen? Wie stehe ich zu mir selbst? Diese drei Dimensionen macht die Lebensform der Würde aus, schreiben Sie. Wovon hängt es ab, ob man seine Würde wiedererlangen kann, wenn man sie einmal verloren hat?

Es kommt darauf an, welche der drei Dimensionen betroffen ist. Wenn es die anderen sind, die mir die Würde genommen haben, indem sie mich mit der Zahnbürste die Straße haben putzen lassen, dann bin ich mir selbst gegenüber nicht beschädigt. Deshalb ist das – in gewissem Sinn – der leichteste Fall. Wenn es die Machtverhältnisse erlauben, kann ich mich später wieder aufrichten. Dann kann man das – wie die Juden – als traumatische Episode erleben, aber als etwas, was mich nicht unwiderruflich selbst beschädigt hat. Anders ist es jedoch, wenn ich selbst der Urheber des Würdeverlusts bin. Wenn ich zum Beispiel KZ-Aufseher gewesen bin, dann habe ich meine Würde verspielt, weil ich andere auf demütigende Weise behandelt habe. Dann stellt sich die Frage, ob ich je wieder zu mir zurückfinden kann.


Sie erwähnen in Ihrem Buch auch die Fotos, die US-Soldaten von aufgetürmten, nackten Insassen im Gefängnis von Abu Ghraib gemacht haben. In den Gesichtern der Soldaten sieht man nur die Lust an der Demütigung. Das Gefühl, sie hätten ihre eigene Würde verspielt, plagte sie damals augenscheinlich nicht.

Am schlimmsten ist das Grinsen auf dem Gesicht dieser Soldatin. Man empfindet tiefes Befremden angesichts der Tatsache, dass sie gar nicht merkt, was sie macht. Das ist eine Form von Grausamkeit, die auf einen tiefen Mangel an Sensibilität hinweist.


Zur dritten Dimension, mit der Sie sich auseinandersetzen. Ich verrate mich selbst. Wie beurteilen Sie diesen Fall?

Ich glaube, dass der Verlust der Selbstachtung dasjenige ist, was einen am ehesten dazu bringen kann, dem Leben ein Ende zu setzen. Wenn man die Grenzen seines Selbstbildes grob verletzt hat, dann weiß man nämlich nicht, wie man über den nächsten Tag kommen soll. Man kann auch nicht darauf hoffen, dass diese Verletzung irgendwann heilen wird, denn die Erinnerung daran ist zu mächtig.


Glauben Sie, es gibt Kulturen auf der Welt, für die Würde keinen hohen Stellenwert hat?

Es ist eine sehr schwierige Frage, ob eine Kultur vorstellbar ist, die den Begriff und die Idee der Würde überhaupt nicht kennt. Ich glaube das eigentlich nicht, denn wir sind alle Menschen. Aber natürlich kommt es auch immer darauf an, wie die Leute Dinge bewerten. Da kann es Unterschiede geben, denn die Würdeerfahrung ist ja nicht naturgegeben, sondern eine kulturelle Erfindung – und daher variabel. Aber sollte es irgendwo so sein, dass es diese Erfahrung überhaupt nicht gibt, würde mich das sehr überraschen.


Sie sind Philosoph, und Sie sind Schriftsteller. Rüdiger Safranski, ebenfalls Philosoph und Schriftsteller sagt, Sie haben eine neue Form des philosophischen Darstellens gefunden. Er nennt es das „narrative Philosophieren“. Alleine dafür gebühre Ihnen der Tractatus. Haben Sie Ihre Begabung, analytisch zu philosophieren, mit jener, erzählen zu können, immer mehr miteinander verbunden?

Am Anfang, da gab es zwei Tische. Es gab den Arbeitstisch des Philosophie-Studenten. Darauf lag die „Kritik der reinen Vernunft“ von Kant. Und es gab den Nachttisch. Da lag Max Frisch. Im Laufe der Zeit rückten die beiden Tische immer näher aneinander. Die Fähigkeit der gedanklichen Übersicht mit jener der erzählerischen Vergegenwärtigung immer enger zu verknüpfen und durch einander weiterzuentwickeln – das erlebe ich als sehr beglückend.

Steckbrief

1944 wurde Peter Bieri in Bern in der Schweiz geboren. Er studierte Philosophie und Klassische Philologie. Er lehrte als Professor für Philosophie in Bielefeld, Marburg, und an der Freien Universität Berlin.

1995 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Pascal Mercier seinen ersten Roman „Perlmanns Schweigen“. Drei weitere folgten. „Nachtzug nach Lissabon“ war sein bisher größter Erfolg als Schriftsteller.

2007 zog sich Bieri vorzeitig in den akademischen Ruhestand zurück. Zu einem seiner wichtigsten philosophischen Werke zählt „Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens“.

Für sein Buch „Eine Art zu leben. Über die Vielfalt der menschlichen Würde“ erhält er nun den Essay-Preis des Philosophicum Lech.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.09.2014)

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