Der Politologe James Mitchell glaubt, die Kampagne für das schottische Unabhängigkeitsreferendum werde mehr Bedeutung haben als das Ergebnis.
Die Presse: Wie beurteilen Sie die Situation kurz vor der historischen Volksabstimmung am 18. September?
James Mitchell. Die Kampagne ist viel interessanter als erwartet, aber das Ergebnis wird viel weniger bedeutsam sein.
Wieso?
Wir haben eine großartige Debatte im ganzen Land und wir erleben eine phänomenale demokratische Erneuerung, die in vielerlei Hinsicht das wichtigste Resultat sein dürfte. Ganz Schottland diskutiert, die Menschen überlegen gemeinsam, in welcher Art Gesellschaft sie leben wollen. Das Großartige an dem Prozess ist, dass ihn die beiden Lager nicht kontrollieren.
Aber das Ergebnis des 18. September wird dennoch entscheidend sein.
Es gibt verschiedene Wege zu demselben Ziel: Wenn wir – was ich nicht glaube – mit Ja stimmen, werden Verhandlungen zwischen London und Edinburgh beginnen. Ungeachtet aller Differenzen gehe ich davon aus, dass die Politiker vom Kampagnen- auf den Regierungsmodus wechseln und Kompromisse suchen werden. Am Ende würden wir eine Art Konföderation bekommen, auch wenn die Nationalisten dieses Wort nicht hören wollen.
Und wenn es ein Nein ist?
Dann werden wir ungefähr zum selben Resultat kommen. London wird mehr Kompetenzen an Edinburgh übertragen, umso schneller und weitreichender, je knapper das Resultat ist. Was wir sehen werden, ist eine immer lockerere Union, aber was bleiben wird, ist die Frage, wie wir unsere Beziehungen ordnen. Wenn Großbritannien 2017 wirklich eine EU-Volksabstimmung bekommt, wird das wiederum die Debatte eröffnen über die Macht Londons über Schottland. Paradoxerweise könnte Schottland, dessen EU-Mitgliedschaft als unabhängiger Staat strittig ist, dann gegen seinen Willen aus der EU fliegen.
Wird Cameron als Premier in die Geschichte eingehen, der das Vereinigte Königreich verloren hat?
Dieser Gedanke muss für ihn unangenehm sein. Cameron hat eine Partei übernommen, die in Schottland verhasst ist. Zudem hat er schwere Fehler gemacht. In der Opposition sprach er von Respekt für Schottland, als Premier hat er keine Schritte gesetzt. Die Kompetenzen, die er jetzt verspricht, hätte er im Jahr 2010 übertragen sollen. Dann hätte er jetzt kein Referendum.
Wäre Großbritannien ohne Schottland noch groß?
Was ist schon groß an Großbritannien – mit oder ohne Schottland? Eines der größten Probleme dieses Landes ist der Mythos seiner angeblichen Größe. Großbritannien hat eine Position in der Welt geerbt, die keinen Sinn ergibt. Die Frage ist, ob eine Unabhängigkeit Schottlands uns aus dieser Sackgasse herausholen kann.
ZUR PERSON
James Mitchell ist Professor für Public Diplomacy an der Universität Edinburgh. In seiner wissenschaftlichen Arbeit hat sich der Politologe auf die schottische Frage spezialisiert. [ University of Edinburgh]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2014)