Österreichs Innenministerin zeigt Verständnis für den Vorstoß von CSU-Chef Horst Seehofer, das Schengen-System wegen der Flüchtlingswelle aus Italien außer Kraft zu setzen.
Wien/Berlin. Die europäische Flüchtlingstragödie erreicht in diesen Tagen eine neue Dimension: Während an den Mittelmeerküsten der EU täglich hunderte afrikanische Migranten stranden, warnen nordeuropäische Staaten vor Konsequenzen gegen den explodierenden Zustrom aus dem Süden – und drohen nun sogar damit, das Schengen-System zum freien Grenzverkehr zeitweise außer Kraft zu setzen. CSU-Chef Horst Seehofer, der in einem Zeitungsinterview die Wiedereinführung von Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze gefordert hat, erhält Schützenhilfe aus Österreich: Auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) will nicht mehr ausschließen, die Grenze für einen bestimmten Zeitraum zu schließen, um die unbemerkte Weiterreise von Drittstaatsangehörigen zu verhindern.
Besonders der Strom über die Brenner-Route Richtung Bayern hat enorm zugenommen: Allein in den ersten acht Monaten des Jahres seien in Tirol 4085 illegale Zuwanderer aufgegriffen worden, bestätigt Mikl-Leitners Sprecher, Hermann Muhr, im Gespräch mit der „Presse“. Wünschenswert seien Grenzkontrollen keineswegs, betont die Ministerin. Allerdings entwickle sich die Situation seit einigen Wochen immer dramatischer.
Mikl-Leitner: „Es gibt eine extreme Schieflage in Europa. Die Solidarität einzelner Länder wird auf eine harte Probe gestellt, wenn sich manche aus ihrer Verantwortung verabschieden.“ So müsse Italien zwar bei der Rettung der Flüchtlinge im Mittelmeer unterstützt werden; die Hauptlast der Versorgung aber würden andere tragen. Der Norden wirft der Regierung in Rom vor, die gestrandeten Migranten in andere EU-Länder weiterziehen zu lassen – ein Bruch des Dublin-II-Abkommens, laut dem Flüchtlinge in jenem Land Asyl beantragen müssen, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben.
Die Innenministerin fordert seit längerer Zeit eine gerechte Quotenverteilung in ganz Europa. Ein automatisierter Verteilungsschlüssel würde Österreich laut Berechnung auf Basis des EU-Statistikamts Eurostat entlasten. Ähnlich stellt sich die Lage in Deutschland dar, weshalb auch Seehofer EU-weit eine fixe Regelung befürwortet.
Bayern rechnet dieses Jahr mit 33.000 zusätzlichen Flüchtlingen, mehr als doppelt so viel wie im Vorjahr. Die Folge: Die großen Unterkünfte in München und Zirndorf sind überfüllt. In Nürnberg schlafen die Flüchtlinge in einem Bierzelt – eine Situation, die Österreich zu verhindern sucht. Die Zustände seien „menschenunwürdig“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung von SPD, Grünen und Freien Wählern. Das Rote Kreuz spricht sogar von einer „humanitären Katastrophe“.
„Kein Kommentar“ aus Brüssel
Deutschland profitierte bisher davon, dass es von sicheren Drittstaaten umgeben ist; nach Süden und Südosten dient Österreich als Puffer. In den vergangenen Jahren stiegen die Zahlen jedoch wieder deutlich an. Dieses Jahr ist mit 140.000 Einwanderern zu rechnen. Vermehrt kommen nun Flüchtlinge aus Syrien. Auch in Österreich stieg die Zahl der syrischen Asylanträge zwischen Jänner und Mai um 257 Prozent auf 1719 Personen.
Ob all dies eine Wiederöffnung der Grenzkontrollen rechtfertigen könnte, ist fraglich. Ein Notfallmechanismus im Schengen-System, der bei einer Ankunft von Flüchtlingsmassen erlaubt ist, setzt nämlich eine „massive Bedrohung der inneren Sicherheit“ voraus – was mit nur zwei überfüllten bayerischen Flüchtlingslagern schwer zu argumentieren sein dürfte. Die Brüsseler EU-Kommission wollte den Seehofer-Vorstoß gestern nicht kommentieren.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2014)