Wenn Burschen zum Versagen erzogen werden

Ich fuhr in meinem Auto eine abendsommerlich flimmernde Straße in Wien entlang, als ein Plakat eines österreichischen Boulevardblatts...

Ich fuhr in meinem Auto eine abendsommerlich flimmernde Straße in Wien entlang, als ein Plakat eines österreichischen Boulevardblatts meine Aufmerksamkeit auf sich zog: „Bildungs-Desaster? Was an unseren Schulen falsch läuft: Jetzt reden Schüler, Eltern und Lehrer.“ Gleich daneben streckte ein ähnlicher Slogan über das Sitzenbleiben seine großen schwarzen Greifarme nach Passanten am Gehsteig und nach mir aus.

Als ich zu Hause war, wollte ich natürlich mehr wissen, und ich besuchte die Website des Blattes. Dort fand ich als visuelle Interpretation des Problems ein Bild, auf dem neben einem apfelstolzen, zahnlückenstrahlenden, stereogezöpften Strebermädchen in Pastell ein kopfschwerer, sorgenfaltender, zurechtgetrimmter Lausbub in Schwarzweiß unmissverständlich in die Kamera schweigt, dass ihn die Volksschule zur Strecke bringt.

Und bevor mich die gekrönten Bildungsexperten fangen konnten, hatten sie mich auch schon wieder verloren, denn meine Gedanken waren bereits weitergewandert: Ich wollte dem Klischee von der Streberin und vom Loser im Bild auf den Grund gehen und setzte mich mit Professor Google zusammen. Dieser präsentierte mir zum Suchbegriff „Schulprobleme“ sehr viele weitere Bildchen. Unter den ersten 50 sah ich 20 Illustrationen, die keine Kinder zeigten. Auf acht Bildern waren Mädchen zu sehen und auf 22 Bildern Burschen – alles Kinder, die offensichtlich Probleme in der Schule hatten.

Das könnte tatsächlich zur Annahme führen, dass Burschen schlicht für das Baumhaus statt das Schulhaus gebaut sind. Nicht dass ich etwas gegen Baumhäuser hätte, doch die Forschung zeigt, dass Kevin nicht schlechter lernt als Jaqueline. Er lernt bloß anders:

In „Why Gender Matters – What Parents and Teachers Need to Know about the Emerging Science of Sex Differences“ etwa zeigt Leonhard Sax, dass es dafür auch gute Gründe gebe: Das Gehirn sei bei Burschen eben anders organisiert als bei Mädchen. Außerdem wären Ohren und Augen bei beiden anatomisch unterschiedlich ausgeführt. Aus diesen und weiteren geschlechtsspezifischen Unterschieden ließen sich folgende (hier sehr vereinfachte) Strategien ableiten, um den Unterricht ein wenig testosteronkonzilliant zu gestalten:

Burschen in die erste Reihe
Klar, in der ersten Reihe zu sitzen ist uncool aber dafür bekommt man dort alles mit. Und genau das ist bei den Burschen ja oft das Problem: Weil ihr Gehör anders ausgefallen ist als das der Mädchen, hört Kevin nicht so gut wie Jacqueline. Wer wundert sich da noch, wenn Burschen weniger gut aufpassen? (Auch wenn Sax diese Theorie später in seinem Artikel „Sex Differences in Hearing“ (2010) „richtigstellt“, bleibt die Grundaussage dieselbe: Buben hören in der Regel nicht so gut wie Mädchen.)

Durch Wettbewerb locken
Jungs wollen kämpfen und siegen. Deswegen wirkt sich Wettbewerb zwischen ihnen meistens gut auf ihre Motivation und Lernbereitschaft – und somit auf das Lernen – aus. Zudem bewirken Kämpfe und Siege immer auch einen gewissen Level an Stress, der sich positiv auf das Lernverhalten von Burschen auswirkt. (Wir kennen das; die Fachleute nennen es „Eustress“.) Bei Mädchen ist das Gegenteil der Fall: Wettbewerb und Stress sind in der Regel nichts für sie.

Dampf ablassen lassen
Aggression verspricht Spaß, Schmerz ist Babykram! Burschen sind stolz auf aufgeschlagene Knie und scheren sich nicht um verschwitzte Klamotten nach der Hofpause. Sie lieben es, sich zu raufen und auf einen Ball einzutreten. Warum sollten sie genau das also nicht tun dürfen? Weil sie dadurch böse werden? Das Gegenteil ist der Fall, wie Sax anführt: „Drei Viertel aller Morde werden nicht von offenkundig aggressiven Menschen begangen sondern von ruhigen, scheinbar gut erzogenen Männern, die nie einen sicheren und angepassten Weg gefunden haben, ihre Aggressionen abzubauen.“

Schulter an Schulter nach vorne blicken
Freundschaften zwischen Burschen werden eher Schulter an Schulter gelebt (das gemeinsame Ziel ist wichtig), während sich jene zwischen Mädchen eher von Angesicht zu Angesicht abspielen (die Freundin ist wichtig). Wenn man als Lehrer also Kevin ein paar Tipps gibt, empfiehlt es sich neben ihm zu stehen oder zu sitzen. Jaqueline hingegen bevorzugt den Lehrer, der ihr von vorne in die Augen strahlt. Das heißt natürlich nicht, dass der Lehrer der beste Freund des Schülers sein muss oder soll, doch kann diese kleine Strategie dazu führen, dass die Schüler sich wohler fühlen. Und das ist nie falsch!

Gefühlsduseleien gehen gar nicht
Wenn Kevin auf die Frage wie er sich denn heute so fühle mit „Ich weiß nicht“ antwortet, dann ist es nicht, weil er nicht darüber reden will, sondern, weil er es wirklich nicht beschreiben kann. Der Grund dafür: Im Gehirn von Burschen ist der Teil, in dem Gefühle verarbeitet werden (Amygdala), nicht so gut mit dem Sprachzentrum (in der Großhirnrinde) verbunden wie bei Mädchen. Ergo: Aufgaben wie „Schreibe einen Tagebucheintrag, in dem du beschreibst, wie du dich gefühlt hast, als dein Hamster gestorben ist“ sind für Burschen genauso attraktiv wie Wasserballett.

Literatur überdenken
Da Gefühle also nicht so ganz die große Nummer für Burschen sind, sollte man als Lehrer auch bei der Wahl der Themen und natürlich der Klassenlektüre Acht geben. Jane Austen? Ächz! Tagebücher? Boring! Twilight? Würg! Burschen mögen biographisches, Mädchen literarisches. Einziges Problem: Geschätzte 80 Prozent der Jugendliteratur zielt auf Mädchen ab – klar, die kaufen und lesen den Kram ja auch, während Buben nur vor der Playstation hocken! Doch wer war zuerst da – die Henne oder das Ei? (Die Playstation jedenfalls sicher nicht...)

Buben zu Männern werden lassen
Buben brauchen männliche Vorbilder. Gut, das dürfte allseits bekannt sein. Genauso wie die Tatsache, dass Männlichkeit nichts mit Videospielen und mit von vollbusigen Blondinchen besessenen Motorrädern zu tun hat. Was heißt es dann, ein Mann zu sein? Sax: „Es bedeutet, all deine Kraft dafür zu verwenden, anderen Gutes zu tun.“ Und wie führt man einen Buben dort hin? „Am besten, wenn man ihn zuallererst einmal Bub sein lässt.“

Genauso wenig, wie das alles nach großartig neuen Erkenntnissen klingt, wird es die österreichische Schule aus dem Keller holen. Aber die Kevins unseres Landes werden es uns danken, wenn wir unseren Unterricht ein bisschen an ihre Bedürfnisse anpassen und Professor Google in Zukunft seine visuellen Suchergebnisse zu „Lernschwierigkeiten“ neu überdenken wird müssen.

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