Die Mär von den bösen Nationalisten zieht nicht mehr

Jose Manuel Barroso
Jose Manuel Barroso(c) imago/ITAR-TASS
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Das Nein der Schotten wird die Unabhängigkeitsbewegungen nicht bremsen. Europa braucht mehr britische Gelassenheit im Umgang mit dem Phänomen.

Es war, als hätte Europa kollektiv aufgeatmet. Die Erleichterung in den Hauptstädten und EU-Gremien war unüberhörbar. Auf die Zores, die eine schottische Unabhängigkeit bedeutet hätte, verzichteten zwischen Madrid, Rom und Brüssel viele Herrschaften dankend. Sie würden jede separatistische Regung ohnehin am liebsten in der Pandorabüchse versiegeln, mit einem Stahlbetonmantel umhüllen und auf dem Grund des Meeres endlagern, vorzugsweise im Marianengraben.

Dass die Schotten sich nun deutlich gegen eine Abspaltung von London ausgesprochen haben, begrüßte der scheidende EU-Kommissionspräsident, José Manuel Barroso, als „gut für das vereinte, offene und starke Europa“. Sehr schön: Wenn die– vergleichsweise EU-freundlichen – Schotten ihre Eigenstaatlichkeit erklärt hätten, wäre Europa also in Barrosos Welt gespalten, engstirniger und geschwächt worden.

Die Methode ist gängig und lang erprobt: Ganz egal, ob es sich um Schotten, Katalanen oder Flamen handelt – ihre Unabhängigkeitsbestrebungen verteufelt Europas Elite a priori als rückständig und antiaufklärerisch. Jede nationale Ambition steht unter Generalverdacht, wie gemäßigt sie auch auftritt. Der ihnen zugewiesene Platz ist das Schmuddeleck, bestenfalls das pathetische Folklore- und Kitschkammerl.

Der europäische Abscheu vor dem Nationalen hat gute historische Gründe. Zu oft und zu bitter hat der Kontinent unter destruktiven Kräften eines aggressiven Nationalismus gelitten. Die EU ist nicht zuletzt eine Antwort darauf.

Und doch reichen möglicherweise die alten Denkschablonen der Nachkriegszeit, die reflexartig hervorgekramt werden, sobald ein Volk in Europa nach Unabhängigkeit ruft, nicht mehr aus, um die Gegenwart zu begreifen. Woher rührt diese neue Sehnsucht nach regionaler oder neonationaler Identität, die manche Zentralstaaten über Jahrhunderte unterdrückt haben? Ein übliches Erklärmodell verweist auf die Globalisierung, die den Wunsch nach vertrauter Zugehörigkeit verstärkt habe. Einleuchtend, doch vielleicht spiegelt der neue Drang nach Selbstbestimmung gar keine Antihaltung, sondern ein modernes Phänomen wider: die Demokratisierung der Gesellschaft. Das Internet hat Bürgern die Möglichkeit gegeben, jeden Gedanken mit der Welt zu teilen, sich zu vernetzen und zu inspirieren. Ob beim Medien-, Sozial- oder Konsumverhalten, die Auswahloptionen haben sich bis zur Unübersichtlichkeit potenziert. Warum sollen in einer solchen Ära individueller Freiheit (und Überforderung) Schotten, Katalanen oder Flamen nicht die Chance haben, sich zu einem eigenen Staat zusammenzuschließen und ihr Recht auf Selbstbestimmung wahrzunehmen?

Die Regierung in London tat gut daran, den Schotten ein Unabhängigkeitsreferendum zu gewähren. Diese Offenheit hat zum Ergebnis beigetragen. Wären die Schotten politisch unterdrückt worden, hätten sie bei der ersten Gelegenheit für ihre Freiheit gestimmt. Nun aber wogen andere Argumente schwerer: Eine Mehrheit der Schotten stimmte gegen Eigenstaatlichkeit, weil ihr die Sache wirtschaftlich zu unsicher war. So blieb ungewiss, ob sie das Pfund behalten dürfen. Die Angst vor einem ökonomischen Niedergang hielt die Schotten im Vereinigten Königreich. Eine Vernunftentscheidung.


Spanien fährt einen repressiven Kurs. Die Zentralregierung weigert sich, das Referendum anzuerkennen, das die Katalanen am 9.November abhalten. Das könnte langfristig den spanischen Staat erst recht zerreißen. Wer immer Abstimmungen über Unabhängigkeit ablehnt, dem wird man künftig das schottische Beispiel vor Augen führen. Es ist deshalb ein Irrtum zu glauben, dass das Nein der Schotten die Sezessionsbewegungen in Europa bremst. Im Gegenteil: Mit welchem Recht soll nun anderen Völkern Abstimmungen vorenthalten werden?

Die Dämonisierungstaktik trägt nicht weit. In der EU sollte man sich vielmehr Gedanken machen, ob es unter dem gemeinsamen Dach nicht sinnvoll wäre, die Autonomie der Regionen zu stärken. Und wenn am Ende neue Nationalstaaten entstünden, wäre dies auch kein Untergang, solange es auf supranationaler Ebene die EU gibt. Europa brauchte im Umgang mit Unabhängigkeitsbewegungen vor allem eines: mehr britische Gelassenheit.

E-Mails an:christian.ultsch@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2014)

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