Die Rückkehr der USA in die wirkliche Welt

In der Ukraine stehen westliche Werte und im Nahen Osten die westliche Führungsmacht auf dem Prüfstand.

Vom ersten Generalsekretär der Nato, dem britischen Lord Hastings Ismay, ist der sarkastische Ausspruch überliefert, die Nato sei dazu gegründet worden, die „USA drinnen, die Sowjetunion draußen und die Deutschen unten zu halten“. Mit drinnen und draußen war natürlich in und von Europa gemeint. Das Wort hat neuerdings eine beklemmende Aktualität gewonnen, mit der wichtigen Korrektur freilich, dass Deutschland längst nicht mehr „unten“ ist und von niemandem mehr unten gehalten wird.

Im Gegenteil: Die Nato muss sich sogar wünschen, dass Deutschland eine Führungsrolle im Bündnis und auf der Welt spielt und zumindest mithilft, die ersten beiden Ziele des Gründungsvermächtnisses zu erfüllen. Das widerspricht allerdings dem latenten Wunsch der Deutschen selbst, weiterhin unten zu bleiben und die Last nicht tragen zu müssen, die ihm als unerklärter Großmacht aufgebürdet ist.

Dass man eines Tages genötigt sein würde, die Russen „draußen“ zu halten, hätte sich noch vor einem Jahr niemand vorstellen mögen. Unterdessen ist Russland schon drinnen – in der Ukraine. Mit dem unerklärten Krieg in einem Land, das er zu seinen Zeiten als KGB-Offizier wie selbstverständlich als eigenes betrachten konnte, überschreitet Wladimir Putin nun eine europäische Grenze– im doppelten Sinn.

Die Behauptung, der Westen habe bei den Vier-und-Vier-Verträgen und der Auflösung der Sowjetunion Michail Gorbatschow versprochen, dass keines der Länder des ehemaligen Warschauer Pakts der Nato beitreten werde, ist unterdessen hinreichend oft dementiert und als Legende entlarvt worden. Dafür breitet sich nun in den Internetforen und auf den Leserbriefseiten die ebenso falsche Version aus, man habe vereinbart, sich „Einflusssphären“ einzuräumen, in die der andere nicht eingreifen werde. Danach gehöre die Ukraine zur russischen Sphäre. Daraus wird der Schluss gezogen, Putin wahre in der Ukraine eben nur jenes russische Interesse, das ihm der Westen ohnehin konzediert habe.

Man sollte sich aus diesem Anlass daran erinnern, dass die früheren Mitglieder des Warschauer Pakts in Mittelosteuropa alle zunächst der Nato beitreten wollten, weil ihnen ihre Sicherheit unmittelbar wichtiger erschien als das ebenso große wirtschaftliche Interesse. Erst 2004 traten sie dann in der großen Runde auch der EU bei und komplettierten damit die Bindung an den Westen und dessen politische und wirtschaftliche Wertvorstellungen. Beides ist in völliger Freiwilligkeit geschehen und von den Völkern herbeigesehnt worden. Wie brüchig diese Bindung in manchen Ländern inzwischen wieder geworden ist, braucht man nicht zu verschweigen.

Die Krise in der Ukraine hat eine geopolitische Dimension. Sie zwingt die unwilligen Europäer an die Seite der USA und holt diese zurück nach Europa. Die Europäer haben allein nicht die militärische und politische Kraft, Russland entgegenzutreten, auch deshalb, weil sie in den letzten beiden Jahrzehnten die „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Kriegs und der Konfrontation der Blöcke kassieren wollten und ihre militärische Bereitschaft zurückgefahren haben. Die USA brauchen aber für einen politisch-militärischen Einsatz in Europa die wirtschaftliche Kraft der EU.

Über Militär und militärische Einsatzfähigkeit auch nur zu reden ist den Europäern irgendwie unangenehm. Die Verteidigungsausgaben aller europäischen Länder machen insgesamt 40 Prozent der Ausgaben der USA aus, es besteht aber durch die Unterschiedlichkeit der Systeme und allerlei nationale Eigenheiten ein groteskes Missverhältnis zur tatsächlichen Einsatzfähigkeit, die weit unter der der amerikanischen Einheiten liegt.

Zu Recht wird in Europa kritisiert, dass die Politik der Sanktionen gegen Russland selbstschädigend und kontraproduktiv ist, weil sie Putin geradezu unter Eskalationszwang setzt. Die Kritik kommt verständlicherweise aus der betroffenen Wirtschaft, die aber – oft abgesichert durch staatliche Subventionen für ausfallenden Lieferungen– dennoch letztendlich die Maßnahmen mitträgt. Erstaunlich flexibel zeigt sich die Landwirtschaft: Wenn russische Abnehmer ausfallen, müsse man sich eben um Ersatzkunden auf anderen Märkten bemühen, sagte der Präsident der Landwirtschaftskammern kürzlich.

 

Militärische Hilfe kein Tabu

Wer Sanktionen gegen Russland ablehnt, muss die Alternative ins Auge fassen und die heißt: Waffenlieferungen an die Ukraine. Niemand wird die Idee haben, Truppen in die Ukraine zu schicken, aber militärische Hilfe, damit sich die Ukraine selbst verteidigen kann, wobei sie sich auch auf den Willen ihrer Bevölkerung verlassen kann, dürfte kein Tabu sein. Wenn man Waffen an die Kurden und damit in den nahöstlichen Kriegsschauplatz liefert, wäre das auch an die Ukraine politisch zu rechtfertigen.

Wladimir Putin würde dadurch auch nicht stärker „provoziert“ als durch Wirtschaftssanktionen, die ihn gegenüber seiner eigenen Bevölkerung in Erklärungsnot bringen.

Während die „Rückkehr“ der USA nach Europa nur indirekt über die gemeinsame Entwicklung einer Nato-Strategie zur Eindämmung (Containment) Russlands geht, ist die Rückkehr in die Kriege des Nahen Ostens schon im Gang. Am Anfang der letzten Hälfte seiner zweiten Amtszeit findet sich Barack Obama nun dort, wo er eigentlich nie hinwollte.

Einerseits hatte er gehofft, sich auf die USA selbst und Reformen in der Heimat auf jenen sozialen und wirtschaftlichen Gebieten konzentrieren zu können, die seinem Vorgänger kein großes Anliegen waren. Zu diesem Zweck wollte er andererseits die Machtprojektion der USA rund um die Welt zurücknehmen. Allenfalls dachte er noch an den pazifischen Raum und Lateinamerika, aber jedenfalls nicht an den Nahen Osten.

 

Exemplarische Rede

Exemplarisch dafür war die Rede des frischgebackenen Friedensnobelpreisträgers an der moslimischen Universität von Kairo. Dort entwarf er die Vision einer neuen Art von Beziehungen der USA zur arabisch-moslimischen Welt, die von Respekt und Verständnis getragen sein sollte. Bei dieser Gelegenheit kam eine pazifistische Denkwelt zum Vorschein und eine Abneigung gegen die eigene Macht der USA. Wenn die USA eine Führungsrolle spielen sollen, dann nur als Soft Power. Die Rede, die von Arabern rund um die Welt geradezu mit Euphorie aufgenommen wurde, blieb aber ohne Folgen.

Nun müssen die USA wieder zurück auf den größten der Dauer-Krisenherde der Welt. In Syrien war der Präsident noch unsicher. Zuerst setzte er ihm eine „rote Linie“, und als der syrische Präsident diese überschritt, folgten die angedrohten Sanktionen der USA nicht. Schon damals unterlagen die USA einer Fehleinschätzung, wenn sie Assads Gegner für potenzielle Verbündete hielten.

Jetzt hat sich das Blatt vollkommen gewendet: Obama wird Assad möglicherweise sogar brauchen im gemeinsamen Bemühen, die IS-Terroristen niederzuringen. In beiden Fällen, in der Ukraine und im Nahen Osten, stehen westliche Führungsmacht und Glaubwürdigkeit auf dem Prüfstand.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2014)


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