Archäologie: Willendorf, eine Wiege der Mitteleuropäer

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AUSTRIA MUSEUM(c) EPA (BARBARA GINDL)
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Unsere Ahnen lebten schon vor 43.500 Jahren in der Wachau, zwei Forscher, die in Wien studiert haben, haben es rekonstruiert. Wie die Ahnen gelebt haben, lässt sich vermuten: Sie kultivierten sich in Gesprächen am Feuer.

Als ein großer Künstler – oder eine große Künstlerin? – vor etwa 25.000 Jahren aus Kalkstein die Figurine schlug, die 1908 beim Bau der Donauuferbahn in der Wachau wieder ans Licht kam und als „Venus von Willendorf“ bekannt wurde, da lebte seine oder ihre Sippe schon lange an dem Ort, der selbst auf dem Höhepunkt der Eiszeit Nahrung genug dafür bot, dass die Gesellschaft einzelne Mitglieder freistellen konnte, etwa zum Verfertigen von Figurinen. Aber wie lange waren sie schon dort?

Fast 20.000 Jahre: Die ersten Spuren der Siedler in Willendorf deuten auf eine Einwanderung vor 43.500 Jahren, sie sind damit die ersten Spuren von Homo sapiens im Europa nördlich der Alpen, das ist der Österreich schmeichelnde Befund einer Gruppe um Bence Viola und Philip Nigst, beide studierten in Wien, der eine forscht nun in Leipzig, der andere in Cambridge. Sie haben von 2006 bis 2011 wieder in Willendorf gegraben und 32 Stücke von Steinwerkzeugen sowie 23 Reste von Tierknochen gefunden – meist von Feuer versengt –, sie sind parallel Funde durchgegangen, die von 1908 bis 1955 geborgen wurden. Das Augenmerk galt vor allem den Steinwerkzeugen, sie gehören zu einer besonderen Fertigungstechnik aus einer Epoche der jüngeren Altsteinzeit, des Aurigniacien.

Die Technik wurde von unseren Hauptahnen entwickelt – Homo sapiens –, unsere Nebenahnen, die Neandertaler, hatten sie nicht, sie übernahmen sie auch nicht, obgleich sie zur gleichen Zeit in den gleichen Regionen wie H. sapiens lebten und sich mit ihm mischten (jeder von uns hat zwei bis vier Prozent der Gene von ihnen). Die Steinfunde in Willendorf gehören dazu, nun musste man nur noch wissen, wie alt sie sind. Steine kann man nicht bzw. schwer datieren, leichter geht es mit organischem Material, mit den Knochen in den gleichen Grabungshorizonten, sie zeigen das hohe Alter (Pnas, 22. 9.). „Das Problem ist, dass wir über so gut wie keine Menschenreste aus dieser frühen Zeit verfügen. Daher müssen wir uns auf archäologische Hinweise verlassen“, schließt Viola: „In Willendorf konnten wir das frühe Aurignacien auf etwa 43.500 Jahre datieren. Das ist um einiges früher als bisher angenommen.“

Des Feuers Macht: Auch kognitiv

Damals gediehen in der Wachau keine Reben und schon gar keine Marillen, das zeigen Schneckenschalen, es war kalt, die Landschaft eine Tundra mit einzelnen Nadelbäumen. Und was taten die Einwanderer dort den lieben, langen Tag und die halbe Nacht? Wie sie gelebt haben, kann man vermuten, sie waren Jäger und Sammler, alle Menschen waren das über 99 Prozent ihrer Geschichte – erst vor 11.000 Jahren wurden die ersten sesshaft und entwickelten die Landwirtschaft –, manche sind es heute noch, etwa die !Kung, Buschmänner in der Kalahari im südlichen Afrika. Etwa 4000 von ihnen leben noch, am Tag jagen und sammeln sie, in der Nacht versammeln sie sich um ein Feuer – sie leben in Verbänden, in denen jede Familie einen Herd hat, jeden Abend setzen sie sich um einen anderen herum zusammen –, und dann reden sie, über Gott und die Welt.

Darin sah schon Vitruv, der römische Architekturtheoretiker (ca. 80–15 v. Chr.), den Ursprung der Kultur: „Als infolge der Entdeckung des Feuers ein Zusammenlauf entstanden war, brachte es sie zu Gesprächen untereinander, und sie begannen, Hütten zu bauen.“ Eine späte Bestätigung liefert nun Anthropologin Polly Wiessner (University of Utah), die die !Kung seit 40 Jahren studiert: Damals, 1974, hat sie – zu ganz anderen Zwecken – 174 ausführliche Gespräche dokumentiert, die unter mindestens fünf Personen am Tag und in der Nacht geführt wurden. Von 2011 bis 2013 hat sie sich dann auf Gespräche in der Nacht konzentriert.

In ihnen zeigte das Feuer seine Macht: Dass es nicht nur wärmte, sondern auch – via Kochen und Braten – Speisen veredelte, einfacher genießbar werden ließ und damit den ganzen Kauapparat umbaute und vermutlich zum Sprechen befreite, hat Richard Wrangham (Harvard) herausgearbeitet. „Aber es entzündet auch die Kultur und die Gesellschaft“, setzt Wiessner nun fort (Pnas, 22. 9.): Am Tag reden die !Kung vor allem über Alltägliches, soziale und ökonomische Sorgen. Sie füllen am Abend aber nur elf Prozent der Gespräche, im überwiegenden Rest werden Geschichten erzählt, die entweder mit dem größeren Zusammenhalt der !Kung in Raum und Zeit zu tun haben – mit weit weg lebenden oder verstorbenen Verwandten – oder mit dem noch größeren Zusammenhalt mit dem Übersinnlichen, mit Mythen: „Wir sind wirklich einzigartig“, schließt Wiessner: „Wir schaffen weitreichende Beziehungen über unsere aktuellen Gruppen hinaus.“

Ende des Feuers, Ende des Sozialen?

Wir? Unsere Ahnen taten es, uns kommt es abhanden, das fürchtet zumindest Wiessner: Das Licht, das einst milde den Abend und den Geist erhellt hat, droht zum Fluch zu werden, seitdem es von der Elektrizität gespeist wird und uns grelle Dauerhelligkeit beschert, in der jedermann sich auch des Abends vor seine elektronischen Zauberkästen zurückzieht: „Das Kunstlicht hat potenzielle soziale Zeit in Arbeitszeit verwandelt. Was wird aus den Sozialbeziehungen?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.09.2014)

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