Berühr mich nicht in der U-Bahn

(c) Clemens Fabry
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Die U-Bahn ist jener Ort, an dem selbst Philanthropen ihre schwachen Momente bekommen. Kein Wunder, eigentlich.

Denn jeder einzelne Fahrgast für sich mag ja recht nett, ein interessanter Gesprächspartner und freundlicher Mensch sein. Doch verschwimmen all diese Individuen plötzlich zu einer im Gleichklang mit dem Wagon schwankenden, trägen Masse, die nichts Menschliches mehr an sich hat. Mit dem Steigen der Temperaturen wähnt sich der Fahrgast oft nur noch mitten in einem vor sich hinblubbernden Germteig. Verständlich, dass bei jeder sich bietenden Gelegenheit so schnell wie möglich versucht wird, dem silbrig-glänzenden Backofen auf Schienen zu entkommen.

Dumm nur, dass der Vorgang der Wiedermenschwerdung nicht ohne Feindkontakt abläuft – und verschwitzte Hände in Bauchhöhe Schneisen in die Freiheit schlagen. Nun mögen Besucher von Swinger-Clubs Körperkontakt mit wildfremden Menschen schätzen, doch beim täglichen Weg in die Arbeit ist der Arm in der Leistengegend keine allzu erbauliche Vorstellung – besser, Realität.

Es muss aber nicht einmal eine volle U-Bahn sein, die für unerwünschten Körperkontakt sorgt. Das Unbehagen beginnt oft schon dann, wenn ein Passagier das ungeschriebene Gesetz missachtet, in der Vierergruppe nicht den Sitz schräg gegenüber einzunehmen, sondern sich neben mich zu setzen. Und genau jene Zeitgenossen sind es – selektive Wahrnehmung ausgeschlossen –, die dann die U-Bahn-Zeitung bis vor mein Gesicht ausbreiten, als wäre es die Wochenendausgabe der Frankfurter Allgemeinen. Genau jene Zeitgenossen sind es, die ihren Ellenbogen bis in die Mitte meines Sitzes reichen lassen. Und jene Zeitgenossen sind es auch, die in mir die Erkenntnis wecken, dass ich eigentlich kein Philanthrop sein kann.


erich.kocina@diepresse.com("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2008)

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