Italien. Seit Beginn des Jahres sind bereits über 100.000 Boat People an den südlichen Küsten des Landes gestrandet. Die Auffanglager sind überfüllt, doch nördliche EU-Länder verweisen auf die Statistik, wonach die Hauptlast der Asylanträge immer noch bei ihnen liegt.
Wien/Rom. Vermeintlich ruhig plätschern die Wellen im gleißenden Licht der südlichen Sonne Afrikas; die Überfahrt nach Europa scheint ungefährlich. Ein trügerischer Irrtum, den jedes Jahr hunderte Menschen mit ihrem Leben bezahlen. 800.000 Flüchtlinge warten derzeit allein an der libyschen Küste darauf, in seeuntauglichen Schiffskuttern den anderen Kontinent über das Mittelmeer zu erreichen. Der überwiegende Teil jener Migranten, die die tagelange Reise überleben, landet in Italien: Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2014 waren es über 100.00 Flüchtlinge, die an den Küsten im Süden des Landes gestrandet sind – ein regelrechter Ansturm also, den die Regierung nicht länger allein schultern will. Rom fordert Unterstützung für die kostenintensive Rettungsaktion Mare Nostrum, die nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa im Oktober des Vorjahres ins Leben gerufen wurde. Mehr als 360 Menschen kamen damals ums Leben.
Der Norden Europas zeigt sich zwar zögernd zu weiterer finanzieller Hilfe und technischer Unterstützung für die EU-Grenzschutzagentur Frontex bereit. Die Frage der Solidarität aber betrachten Länder wie Österreich und Deutschland mit umgekehrten Vorzeichen: Italien würde, beklagen Regierungsmitglieder in Wien und Berlin, viele gestrandete Flüchtlinge ohne vorherige Registrierung über die Grenze nach Norden weiterziehen lassen. Das Dublin-II-Abkommen sieht hingegen vor, dass ein Migrant in jenem EU-Mitgliedstaat Asyl beantragen muss, in dem er zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat.
Forderung nach Kontrollen
Als Reaktion darauf fordern mehrere österreichische Landeshauptleute wie auch die bayerische CSU, an den Grenzübergängen zu Italien vorübergehend wieder Kontrollen einzuführen und das Schengen-Abkommen kurzfristig außer Kraft zu setzen – eine Maßnahme, die auch Innenministerin Johanna Mikl-Leitner nicht ausschließen will.
Eine langfristige, gesamteuropäische Lösung des Flüchtlingsproblems aber muss freilich anders aussehen, darüber ist sich die Politik einig. Deshalb machen sich Mikl-Leitner und ihr deutscher Amtskollege, Thomas de Maizière, für einen „gerechten Aufteilungsschlüssel“ innerhalb der Union stark – und zwar nicht ohne eigennützigen Grund: Ein solches Quotensystem würde, das zeigen Zahlen des EU-Statistikamts Eurostat, Länder wie Österreich und Deutschland nämlich entlasten. Damit hätten die Behörden im Jahr 2013 um 10.275 beziehungsweise 56.761 Flüchtlinge weniger zu versorgen gehabt. In Italien dagegen wäre die Zahl der Asylanträge im Vergleich zum Ist-Zustand fast um die Hälfte höher gewesen, und zwar um exakt 23.039 Stück.
Lager überfüllt
Das Problem: Schon heute sind die italienischen Behörden heillos überfordert. Die Auffanglager in den südlichen Regionen des Landes sind völlig überfüllt. Premier Matteo Renzi arbeitet an einem Plan, die Aufnahme von Flüchtlingen allen Regionen seines Landes schmackhaft zu machen. Schulen, Kasernen und Turnhallen sollen für die Gestrandeten Unterkunft bieten. Dagegen regt sich allerdings massiver Protest: So hält es etwa der Präsident der Region Veneto, Luca Zaia, für „unannehmbar, dass öffentliche Gebäude konfisziert werden, um Migranten unterzubringen“. Doch nicht nur im Norden des Landes ist die Solidarität mit den hauptbetroffenen Regionen im Süden enden wollend. Auch an Kalabriens Nordküste rund um Tropea und das malerische Capo Vaticano winken Politiker hinter vorgehaltener Hand ab, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Die Befürchtung: Schädigung des Fremdenverkehrs. „Die Touristen wollen keine Schwarzen in den Gassen sehen“, lautet der einhellige Tenor.
Ausgerechnet im noch ärmeren Süden der Region – im kleinen Örtchen Riace in Reggio di Calabria – verhält es sich genau umgekehrt: Ohne Flüchtlinge gebe es hier nämlich überhaupt keinen Fremdenverkehr. Vor vielen Jahren gründete der Bürgermeister das Projekt „Città Futura“ und belebte die kleine, verlassene Gemeinde durch die Ansiedlung gestrandeter Migranten. Etwa 250 Neuankömmlinge leben derzeit in Riace und sind in das Gemeindeleben bestens integriert. In kleinen Geschäften bieten sie ihr Handwerk an Touristen feil: Webarbeiten, Keramik, Schmuck oder Öl. Dass Riace aber zum Vorbild für den Rest Europas werden könnte, bleibt wohl nur ein frommer Wunsch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2014)