Die magische Kinnlänge

Wie lang darf es sein? Ein Blick auf die Haarlängenskala bei Spitzenpolitikerinnen und First Ladies.

Es gibt Männer, es gibt Frauen. Und es gibt Politfrauen. Das ist die Spezies von Mensch, die durch eine Wahl bis an die Spitze eines Staates gelangt, obwohl sie ursprünglich weiblichen Geschlechts war. Ihr Kennzeichen ist: Hosenanzüge und eine Frisur, die jede wie immer geartete Katastrophe oder Krise übersteht.

Die erste Vertreterin dieses dritten Geschlechts war Margaret Thatcher. Als sie 1979 die politische Bühne Europas betrat, gab es vor ihr nur die Queen. Und sie war sakrosankt. Kein Wunder, dass sich die Eiserne Lady stilmäßig an diesem Ideal orientierte. Zementfrisur, große Hüte, gepanzerte Handtaschen und adrette Kostüme in Pastellfarben, die sie sich vom königlichen Schneider nähen ließ. Einzig der Lippenstift war etwas weniger dezent als jener der Queen. Trotzdem war beiden gemeinsam: Ihr Outfit ließ nicht vermuten, dass sie darunter nackt waren. Seither hat sich für die Politfrau wenig geändert.

Krisenprävention als Kopfsache

Eine junge Frau, die sich heute dafür entscheidet, in die Politik zu gehen, erspart sich viele PR-Krisensitzungen, wenn sie frühzeitig den weisen Ratschlag einer älteren Kollegin beherzigt: „Das Wichtigste, was ich Ihnen heute mitgeben möchte: Achten Sie auf Ihre Frisur, denn jeder andere wird es auch tun“, sagte Hillary Clinton vor Studierenden der University of Yale. Die ehemalige First Lady und womöglich künftige Präsidentin der Vereinigten Staaten weiß, wovon sie spricht, wurde doch ihr Haarspangenunfall auf einer UNO-Konferenz 2010 – am US-außenministeriellen Oberkopf befand sich ein mit einer Haarspange zusammengeklammertes Haarbüschel – weltweit ziemlich ungnädig dokumentiert. Obwohl die amerikanische Spitzenpolitikerin sonst einen vielleicht biederen, aber doch adretten Stil pflegt.

Das unterscheidet sie doch recht deutlich von Angela Merkel, deren Frisur lange als nicht besonders vorteilhaft gelten musste. Ebenso wenig wie der gesträhnte Bob der langjährigen Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey übrigens, die im Nachbarland reichlich Stoff für Karikaturisten lieferte. Zu ihrem 65.   Geburtstag wünschte ihr eine Wählerin „alles Gute zum Geburtstag und eine neue Frisur“.

Durch die Frisur ins Kanzleramt? So manche Spitzenpolitikerin mochte vielleicht den einen oder anderen sehnsüchtigen Seitenblick auf das unkommentierte Haupt eines männlichen Kollegen geworfen haben. Doch Rettung nahte. In Deutschland in Gestalt des Berliner Promifriseurs Udo Walz. Er hat Angela Merkel Schnitt für Schnitt an die Macht angepasst. 2005 hat sie sich endgültig von ihrem eigenen Geschmack losgesagt und trägt ihr Haar seither kurz bis kinnlang, aus dem Gesicht geföhnt, mit locker in die Stirn fallenden Ponyfransen und dezenten blonden Strähnchen. Zufall, dass Angela Merkel in diesem Jahr erstmals Kanzlerin wurde? Vielleicht erkennt einfach mit der Zeit jede Politikerin, dass man nur mit einer Betonfrisur gegen Betonschädel ankommen kann.

Inzwischen ist der „Merkel-Standard“ für deutsche Politikerinnen übrigens längst bindend geworden. Eine ganze Nation atmete erleichtert auf, als sich die Familienministerin Ursula von der Leyen auch endlich von ihren langen Haaren trennte. Seither gilt sie als Merkels designierte Nachfolgerin.

Ein Staatschefinnenstyling beginnt also beim Kopf. Aber dort endet es nicht. Denn eine Frau bekleidet nicht nur ein Amt. Sie wird auch von ihm bekleidet: durch dunkle, schlichte Hosenanzüge oder knielange Röcke, Blazer und weiße Blusen. Im Normalfall verlangt das Amt von seinen Trägerinnen, dass sie nicht aus der Reihe tanzen. Wenn sie schon keine Männer sind, dann sollten sie doch zumindest auch keine Frauen sein. Den meisten Politfrauen gelingt das auch so gut, dass sie – wie Angela Merkel – durch einen zufällig gewährten tiefen Blick in ihren Ausschnitt bei einem Besuch der Osloer Nationaloper halb Europa schockieren.

Ganz anders verhält es sich bei den Frauen der Spitzenpolitiker. Michelle Obama, Bettina Wulff oder die beliebteste First Lady in spe, Herzogin Catherine, dürfen nicht nur modischen Geschmack zeigen, sondern sie müssen es tun. Denn eine First Lady, die weniger als eine Stilikone ist, hat ihren Job verfehlt. Wenn Michelle Obama schulterfrei in der Öffentlichkeit auftritt, wird sie dafür gelobt, dass sie mit ihren 50 Jahren noch so muskulöse Oberarme hat.

Ein Blick auf die Haarlängenskala macht deutlich: First-Lady-Haare dürfen über die magische Kinngrenze hinauswachsen. Michelle Obama trug ihr Haar jahrelang fast schulterlang, ebenso Hillary Clinton, als sie noch die Frau an der Seite des US-Präsidenten war. Jüngere First Ladies dürfen sogar mädchenhaftes Langhaar tragen, etwa Deutschlands Ex-First-Lady Bettina Wulff. Dass Cristina Kirchner, gewähltes Staatsoberhaupt von Argentinien, sich ebenfalls über das Kinnlängenlimit hinwegsetzt, passt zu ihrer Vorliebe für Prada-Taschen. Auch sie kann es aber nicht mit Catherine von Cambridge aufnehmen. Sie nämlich wird von Millionen Fans für ihr langes, glänzendes, dunkles Haar bewundert. Die Beauty-Seiten der Mode- und Frauenmagazine sind voll von Fotostrecken und praktischen Tipps: „Kate Middleton: 20 Partyfrisuren zum Nachstylen“.

Kate bleibt Kate

Ohnehin ist die Herzogin von Cambridge Dauergast auf den virtuellen Laufstegs der Mode-Blogs. Die ganze Welt freute sich über „Kates“ größer werdenden Babybauch unter rosaroten, kornblumenblauen, kirschroten, geblümten, gestreiften, getupften Outfits von Reiss, Joseph, Sara Burton, Jenny Peckham, Alexander McQueen und anderen. Mehr Körper als erwünscht zeigte die junge Mutter heuer bei einer Australien-Reise, als der Wind ihr vorwitzig den Rock so weit hob, dass sich die ganze Welt auch vom tadellosen Stil der hochadeligen Unterwäsche überzeugen konnte. Das soll die Queen übrigens dazu veranlasst haben, der Schwiegerenkelin ihren eigenen Schneider und das Kürzen der Haare empfohlen zu haben. Worauf prompt ein Aufschrei durch die Modewelt ging: Ohne ihr langes Haar, hieß es, sei Kate nicht mehr Kate!

Die Einzige, die sich mit ihrem Gretchenzopf erfolgreich gegen alle Frisurendiktate auflehnte, war die ukrainische Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. Dafür landete sie allerdings auch im Gefängnis. s

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