Die Arche von Hiddensee

Ein gewaltiges Sprachereignis: Lutz Seilers spätes Prosadebüt, „Kruso“, über die großen Themen Freiheit, Freundschaft, Liebe im Wendejahr 1989 gilt als Favorit auf den Deutschen Buchpreis.

Auch wenn der Titel damit spielt: „Kruso“ ist kein waschechter Abenteuerroman à la „Robinson Crusoe“. Und auch wenn die Geschichte im Sommer 1989 in der DDR spielt, das Buch ist kein waschechter Wenderoman. „Kruso“, das Prosadebüt des Lyrikers Lutz Seiler, Bachmannpreisträger 2007 und soeben mit dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet, hat von beidem etwas und ist im Grunde doch etwas anderes: eine höchst sensible Coming-of-Age-Geschichte eines Germanistikstudenten, der Gedichte über alles liebt und selbst schreibt. Damit ist der Roman auch eng mit Seilers eigener Geschichte verwoben, „Kruso“ schildert letztlich auch die „Werdung“ eines Schriftstellers, bei der Literatur, besonders die Poesie, eine ganz zentrale Rolle spielt.

Nach dem tragischen Unfalltod seiner Freundin G. verschwindet Edgar Bendler (nicht Wibeau wie bei Plenzdorf), als das Sommersemester zu Ende geht, aus seinem Leben. Einen konkreten „Fluchtplan“ hat er keinen, und so ist es kein Wunder, dass er dort strandet, wo so viele stranden, die „Schiffbruch“ erlitten haben: auf der Insel Hiddensee, dem Capri des Nordens, von der aus manchen die Flucht aus der DDR gelingt, die meisten aber vergeblich versuchen, über die Ostsee nach Dänemark und in die Freiheit zu schwimmen. Ed findet dort Arbeit im Klausner, einem Ausflugsgasthaus, er wird Abwäscher, „Esskaa“ – Saisonarbeitskraft. Vor allem aber begegnet er in der eingeschworenen Klausner-Gemeinschaft, einer Mischung aus Hippie-Kommune und literarischem Zirkel, Kruso.

Alexander Krusowitsch, genannt Kruso oder Losch, Sohn eines Generals, halb Russe, halb Deutscher, ist auf Hiddensee aufgewachsen und auf der Insel eine wahre Legende. Wie Edgar schreibt auch er selbst Gedichte, wie Edgar hat auch er den Menschen, der ihm am wichtigsten war, tragisch verloren: seine Schwester, die über die Ostsee zu fliehen versucht hat und verschwunden geblieben ist. Sonst ist Kruso ein sehr viel entschiedenerer, bestimmterer Charakter als Edgar, er ist ein Fanatiker, besessen von der Idee, alle „Schiffbrüchigen des Lebens“, die vor die Türen des Klausners gespült werden, alle diese Suchenden, nach Freiheit Sehnsüchtigen, zu den Wurzeln der „wahren Freiheit“ zurückzuführen. Natürlich resultiert dieser Wunsch aus der Wunde, die Kruso das Verschwinden der Schwester zugefügt hat: Die Flucht in den freien Westen soll am Ende nicht mehr notwendig sein.

Worin genau die „Lehre“ des „Meisters“ Kruso besteht, weiß man nicht (Thomas Morus kommt nebst anderen großen Freiheitsutopikern vor); Ed interessiert das auch nicht allzu sehr. Literatur spielt jedenfalls eine zentrale Rolle – auch in Eds Beziehung zu Kruso, seinem Robinson, dem er als bedingungslos loyaler Freitag zur Seite steht: Gedichte (vor allem von Trakl) sind ihr Heiligstes. Am Ende, im Herbst 1989, steht Ed trotzdem allein da. Alle sind verschwunden, Ed erfährt gleichsam als Letzter aus dem Radio, dass die Grenzen offen sind, seit Tagen.

Dieses Ende spricht Bände: Ed hat nach außen hin etwas Phlegmatisches, ist ein in sich gekehrter stiller Träumer, der dafür aber eine überreiche Fantasie besitzt. Da Ed die Hauptfigur des Romans ist – und nicht Kruso, wie der Titel vermuten lässt –, ist der Blick auf die Welt entsprechend ein sehr innerlicher. Es ist eine beseelte Welt, überbordend von Metaphern und Bildern, die der Erzähler, Eds Wahrnehmung entsprechend, entwirft. Der Klausner ist darin nicht bloß ein Gasthaus, sondern wird zur Arche, mit deren Besatzung Ed „in See stößt“, im Abfluss wartet ein Seeungeheuer, der „Lurch“, man hört abends nicht Radio, sondern lauscht Viola, die spricht, und ein toter Fuchs kann da ein Alter Ego sein, das die richtigen Fragen stellt und gute Ratschläge gibt.

„Kruso“ ist ein wahres Sprachereignis, ist Lyrikerprosa in reinster Form. Da gibt es Sätze, an deren Schönheit man sich tatsächlich berauschen kann, und gleichzeitig ist das über 445 Seiten hinweg auch etwas anstrengend. Ein wenig ist es so, als versänke durch die Gewalt dieser zweifellos unglaublich beeindruckenden Sprache das, was beschrieben wird, hinter einem Nebelband – vor allem auch die faktisch bedrohliche DDR-Realität wird so in ein geradezu poetisches, ja fast märchenhaftes Licht getaucht.

Wirklich verständlich wird die politische Dimension, das ganze unendlich tragische Ausmaß dieses Kampfs der Freiheitssehnsüchtigen auf der Ostsee erst im verhältnismäßig kurzen Epilog über Eds Suche nach Krusos verschollener Schwester, einer der vielen unbekannten Toten der Ostsee. Da ist der Ton plötzlich ein anderer; Ed spricht jetzt selbst, nüchterner, geordneter, er hat seinen Ton als Dichter gefunden. Das ist wunderschöne, klare Prosa, die den Finger direkt auf die Wunde legt und in ihrer Reduktion auf das Wesentliche beeindruckt. Man fragt sich, wie „Kruso“ klänge, erzählte Ed selbst die ganze Geschichte in dieser zurückgenommenen, bescheidenen Prosa.

Aber faktischer Einwand gegen den Roman ergibt sich daraus keiner. „Kruso“ ist ein hochpoetisches Kunstwerk eines sensiblen Sprachmagiers, eine intime Geschichte über das Erwachsenwerden mit allen großen Themen, die dazugehören: der bubenhaften Reminiszenz an die Kindheitsabenteuer, der Unsicherheit angesichts der Erwachsenenwelt, der unstillbaren Sehnsucht nach Liebe und Freundschaft und der Suche nach dem Weg in die eigene, innere Freiheit, die in „Kruso“ direkt in die Poesie hineinführt.

Vielleicht ist diese Sprachgewalt nicht jedermanns Sache, und sicher gibt es Bücher, die die Unmenschlichkeit des DDR-Regimes wesentlich deutlicher entblößen und besser sezieren. Aber zweifellos ist „Kruso“ eines der besten Bücher 2014. ■

Lutz Seiler

Kruso

Roman. 484S., geb., €23,60 (Suhrkamp Verlag, Berlin)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.10.2014)

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