Und Justitia weint

Am Montag wird in Johannesburg das Strafmaß für Oscar Pistorius verkündet. Egal, wie ihre Entscheidung ausfällt, Richterin Thokozile Masipa ist in jedem Fall in einer prekären Situation. Ein Psychogramm aus Südafrika.

Shitstorm für Justitia. Richterin Thokozile Masipa musste nach ihrem Urteil gegen den beinamputierten Sprintstar Oscar Pistorius, „Fahrlässige Tötung von Reeva Steenkamp“, unter Polizeischutz gestellt werden: rassistisch-sexistische Tiraden, Verleumdungen,Bestechungsvorwürfe auf Twitter und Facebook, harsche Kritik von Medien und Juristen. Der erfahrenen Vorzeigefrau, die vor ihrer Gerichtskarriere im neuen Südafrika als Kassiererin, Streetworkerin und Gerichtsreporterin tätig gewesen war, fehlten für eine Verurteilung wegen Mordes oder Totschlages ausreichende Beweise. Ergo: In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten. Ein Triumph für den Verteidiger, den „Kanonier des Gesetzes“, eine krachende Niederlage für den Staatsanwalt, der nur mehr auf ein Revisionsurteil des Obersten Gerichts hoffen kann.

Und Oscar Pistorius, 27, der waffenverliebte Held von gestern, der weinerliche Angeklagte, atmet durch. Ihm war am Tag vor der verhängnisvollen Valentinsnacht 2013 noch eine Rechnung über drei Pistolen, zwei Revolver und ein Gewehr zugestellt worden –das Gesetz erlaubt ein Maximum von vier Feuerwaffen im Haushalt. Stunden später war seine Geliebte, Reeva Steenkamp, 29, tot. Niedergestreckt von vier Kugeln, die Pistorius durch eine geschlossene Toilettentür abgefeuert hatte. Südafrikas Paradestrafverteidiger, Barry Roux, 58, der ungeniert „mit genug Geld sind viele Dinge machbar“ twitterte, setzte auf „Schutzreflex des beinamputierten Schützlings gegen einen vermeintlichen Einbrecher“. Schockstarre bei der Familie des Opfers; auch weil Pistorius bis zum 13. Oktober – dann erst wird das Strafmaß verkündet – auf Kaution frei bleibt. Dass sich der Verurteilte am Ende des 41. Prozesstages vor Richterin Thokozile Masipa wie ein demütiger Büßer verbeugte, entsprach der Dramaturgie seines mit 4500 Euro Tageshonorar dotierten Anwalts Barry Roux. Der Impresario dieses Täter-Opfer-Verwandlungsdramas weiß zu beeindrucken: Er brach Zeugen im Kreuzverhör, zerlegte polizeiliche Ermittler, setzte auf Beschützerinstinkte für denbehinderten, schutzbedürftigen Angeklagten, engagierte diesem einen Performance-Coach.

All das sollte bei Thokozile Masipa Wirkung zeigen. Die stoische Mittsechzigerin fand sich in einem Szenario von Widersprüchen, Finten und Verfehlungen wieder. Hatte alleine, ohne Geschworene, das Urteil zu fällen. Ihr schmeichelte Roux am 11. September auf Twitter: „Ich möchte mich bei Richterin Masipa bedanken, dass sie allen ,Lehnstuhlexperten‘ gezeigt hat, dass Rechtsprechung nichts für simple Gemüter ist.“ Wie süffisant: Lob für die gedeihliche Kooperation, Rüffel für die Kollegenschaft, die moniert, Masipas Urteil öffne in der von Gewalt kontaminierten Gesellschaft dem systematischen Gesetzesmissbrauch Tür und Tor. Das kostet Mister Roux nur einen Lacher: Er will mehr. Der Staranwalt will es seinen prominenten US-Kollegen gleichtun wie im Fall des Freispruches für den Amok gelaufenen Sport- und Werbestar O.J. Simpson in einer beispiellos vermarkteten Court Soap.

Dass Südafrika mit seiner vorbildlichen Verfassung von 1994 und seinem anerkannten Gesetzeskodex weltweit eine der höchsten Korruptions- und Kriminalitätsraten aufweist, liegt (auch) an den Schatten der Apartheid: 160.000 registrierte Morde während der vergangenen zehn Jahre – das sind 50 täglich; ein Vielfaches an Raub, Vergewaltigungen, Überfällen, Einbrüchen. Die Aufklärungsquoten sind bescheiden, die Justiz in Nöten. Konträr dazu sind Aufwand, Kostenund das gebannte Interesse an dem Fall Pistorius. Er trifft den Nerv der Nation: das von der Verteidigung invers vorgetragene Symptom der Angst-Schuld-Aggressions-Verkettung, der an der Manipulationsraffinesse der Gegenseite gescheiterte Staatsanwalt; die den Angeklagten nicht für Mord verurteilende Richterin – all das spiegelt ein paradoxes Psychogramm einer zutiefst verstörten, von ihrer Vergangenheit deformierten Gesellschaft wider.

Perspektivenwechsel: zurück in das Jahr 1986, ins Geburtsjahr von Oscar Carl Pistorius. Revolte in den Townships, militärischer Ausnahmezustand, blutige Zusammenstöße: Die unterdrückte Mehrheit will den verhassten Apartheidstaat unregierbar machen. Das paranoide Regime sieht alle Feindseligkeiten bei den Schwarzen, es suggeriert sich und der Welt, die aktivierte Gewaltmaschinerie sei pure Notwehr. Die Familie Pistorius, die im Johannesburger Nobelvorort Sandton im Abseits der Gewalt lebt, ist am 22. November 1986 untröstlich: Ihr im Sternkreis des Schützen geborener zweiter Sohn Oscar ist mit schweren Missbildungen an Unterschenkeln und Füßen zur Welt gekommen. Ein Gendefekt. Noch vor seinem ersten Lebensjahr ist der Kleine beinamputiert. Er bekommt jede erdenkliche orthopädische und psychologische Unterstützung. Mutter Sheila suggeriert ihm: „Verloren hat nicht der, der als Letzter über die Ziellinie läuft, sondern der, der am Rande steht und zuschaut.“

Zur selben Zeit befindet sich die 38-jährige Aktivistin und Gerichtsreporterin Thokozile Masipa aus dem Aufruhr-Township Soweto in Polizeigewahrsam. Grenzsituationen sind ihr vertraut: Neun ihrer fünf Geschwister starben, der jüngste Bruder wurde erstochen – die Polizei verzichtete wie so oft auf Protokoll und Ermittlung. Umso aggressiver werden Aktivisten verhört. Masipa wird eingeschüchtert, kommt in Einzelhaft. Sie hört die Schreie von Gefolterten, die Schläge der Peiniger, sie erlebt hautnah Herrschaft und Unterwerfung. Dagegen wappnet sich Thokozile Masipa, sie wechselt die Waffen: Nicht riskanter Widerstand im Gewaltchaos, sondern souveräne Kenntnisse im Justizwesen sollen das Unrechtsregime attackieren. Die Frauenrechtlerin beginnt neben ihren Brotberufen ein juristisches Fernstudium und visiert die weiße männliche Domäne, die Jurisprudenz, an.

Dort ist der ambitionierte Junganwalt Barry Roux bereits etabliert. Seit vier Jahren gehört der Senkrechtstarter aus der Provinz dem Gerichtshof in Johannesburg an. Roux genießt den urbanen Lebensstil der Metropole: Connections, Partys, den House-Garden-Swimmingpool-Tenniscourt-Lifestyle mit Wildlife am Wochenende samt den landläufigen „Braaivleis“-Genüssen: Steaks, Burenwürste vom offenen Feuer, Bier, Kapweine. Am 21.November 1986 feiert Barry Roux seinen 31.Geburtstag – aber die „Life is good“-Vibes trügen, sie verdrängen die beunruhigende Wirklichkeit. In Juristenkreisen weiß man zu gut, wie sehr das aufwendige Regelwerk der Apartheidgesetze – die willfährigen Verordnungen, Verbannungen, Zwangsumsiedlungen, Arbeitsregulierungen – die institutionalisierte Gewalt repräsentieren. Krude sichtbar in den Methoden des Sicherheitsapparats, den systematischen Folterungen, für die niemand zur Rechenschaft gezogen wird. Im Gegenteil: Roux und Co. wissen, dass Colonel P.J. Goosen, der im August 1977 das tödliche Folterverhör mit Steve Biko geleitet hatte, vor wenigen Jahren zum stellvertretenden Polizeikommissar bestellt wurde.

All das läuft unter der nationalen Order: Abwehr der „schwarzen Gefahr“ – Notwehr eben. Die Zeitenwende von 1989 bringt Nelson Mandela als ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas hervor. Er und sein smarter Nachfolger Thabo Mbeki haben das Land am Kap in eine scheinbar friedliche Zukunft geführt. Oscar Pistorius ist neun, als Magic Madiba bei der unvergesslichen Rugby-WM in Südafrika dem legendären Springbok-Captain Francois Pienaar unter dem Jubel der Nation die Trophäe überreicht und sagt: „Sie haben uns alle zu Siegern gemacht.“ Oscar, der sportliche Draufgänger, ist ein guter Rugbyspieler, er will überall der Beste sein. Nur die heile Kinderwelt ist zerbrochen. Die Eltern sind geschieden, die Mutter nun alleinerziehend, im neuen, kleineren Haus wird in der Nachbarschaft häufiger eingebrochen, an den Elektrozäunen hängt das Schild „Armed Response“. Oscar entdeckt seine Leidenschaft für Waffen und nach einer schweren Verletzung im Rugby seine Liebe zum Laufen.

Die Männerfantasien der entthronten Machthaber – „die Nacht der langen Messer“, „der schwarze Blutrausch“, „kastrierte, vergewaltigte weiße Männer und Frauen“ –, diese jahrzehntelangen Phantomängste der privilegierten Minderheit, die haben sich nicht bewahrheitet. Mandela ist Pragmatiker, kein Brachialstratege. Aber „das Wunder am Kap“, „die Regenbogennation“ sind Schimären, PR-Kreationen. Die Saat von Aggression, Angst und Gewalt, dieser infernalische Bazillus, wütet weiter.

Auch Thokozile Masipa hat es geschafft: Mit 50 wird sie als zweite schwarze Frau Südafrikas am North Gauteng High Court zur Richterin ernannt. Sie gilt als hart, aber fair. Sie fällt unerbittliche Urteile gegenüber Gewalttätern. Jugendlichen schwarzen Mädchen wird Richterin Masipa zum leuchtenden Vorbild. Das BEE, das Black Economic Empowerment, eröffnet Schwarzen im Land ungeahnte Aufstiegschancen. Ein kleiner Zirkel des regierenden ANC wird mit Kontakten und Deals superreich – man hat sich arrangiert. Mandelas Versprechen „a better life for all“ wird schamlos verraten: Die Armen bleiben arm. Das schmerzt die einstige Streetworkerin, die von ganz unten gekommen ist.

Die Anwaltskanzlei von Barry Roux zählt mittlerweile zu den Topadressen im Land, und in den Zeiten des politischen Wandels gibt es genug zu tun: Viele Schäfchen sind ins Trockene zu bringen, so manch ein Unersättlicher aus der Bredouille zu boxen. Der berüchtigte Polizeichef aus Apartheidzeiten ist ebenfalls sehr zufrieden mit den Diensten seines Anwalts. Und Justitia weint.

Übermorgen verkündet also die unter Beschuss geratene Richterin das Strafmaß ihres umstrittenen Verdikts „Fahrlässige Tötung“. Alles ist möglich: eine Höchststrafe von 15 Jahren bis zu einer Bewährungsstrafe ohne Freiheitsentzug, Skandal, Salomonisches, Aufhebung des Urteils. Klar ist, die Verteidigung wird noch einmal alle Register ziehen. Reeva Steenkamp war diejenige, die vor dem Jähzorn, der Eifersucht, dem Schießwahn ihres Glamourboys massive Angst hatte. Paradox. Warum marginalisiert Thokozile Masipa, die sich als Sozialarbeiterin und Gerichtsreporterin jahrelang für gewaltgeschädigte Frauen an der Basis engagiert hat, das weibliche Opfer? Nüchterne Köpfe werden sagen: Die Richterin hat sich von diesem komplizierten Gewirr und den Emotionen dieses Falls nicht beeinträchtigen lassen. Sie hat Mut bewiesen. Sie hat in einem höchst kontrovers geführten Indizienprozess human den Zweifel für den Angeklagten sprechen lassen.

Jedoch ist Richterin Masipa in diesem Fall der Paradoxien in einer äußerst prekären Situation. Verhängt sie das höchste Strafmaß, jubeln jene, die sie bedroht und verleumdet haben, und der „Kanonier des Gesetzes“ wird schwerste Geschütze auffahren. Geht die Rechtssprecherin den (wahrscheinlichen) Mittelweg, mit einer Gefängnisstrafe von einigen Jahren, wird die Verteidigung wieder die Psychokarte zücken: Wegen schwerer Störungen und Suizidgefahr müsse Pistorius in eine Spezialklinik eingewiesen werden. Lässt Thokozile Masipa den Roux-Schützling vom Haken, ist ihr Ruf und der der südafrikanischen Justiz ruiniert. Dann hat die „money buys law“-Manier auf obszönste Weise obsiegt. Justitia stehe ihr bei. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Oscar Pistorius könnte im Sommer das Gefängnis verlassen.
Weltjournal

Pistorius: Anklage hofft im November auf härteres Urteil

Der Staatsanwaltschaft glaubt an Mord. In zweiter Instanz werden keine Zeugen vernommen. Der Sprinter könnte im August aus dem Gefängnis kommen.
Archivbild: Pistorius im Gerichtssaal in Pretoria.
Weltjournal

Pistorius: Mord-Berufungsprozess zugelassen

Ein halbes Jahr nach der Verurteilung von Oscar Pistorius wegen fahrlässiger Tötung muss sich Ex-Sportstar Oscar Pistorius in einem Berufungsverfahren dem Vorwurf des Mordes stellen.
Weltjournal

Berufung: Muss Pistorius länger ins Gefängnis?

Der südafrikanische Paralympics-Star Oscar Pistorius wurde im Oktober wegen fahrlässiger Tötung seiner Freundin zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die Staatsanwaltschaft geht jedoch von Mord aus und legte Berufung ein.
Weltjournal

Pistorius: Staatsanwaltschaft legte Berufung ein

Wie angekündigt legte die Staatsanwaltschaft in Pretoria Berufung ein. Die Anklagebehörde gehe fest von einerTötungsabsicht aus.
Die Krankenstation des Gefängnisses von außen.
Weltjournal

Oscar Pistorius' erste Nacht im Gefängnis

Der zu fünf Jahren Haft verurteilte Sprintstar verbrachte seine erste Nacht auf der Krankenstation des Zentralgefängnisses in Pretoria. Er ist in einer Einzelle untergebracht.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.