Backpacking auf vier Rädern

Reitter/Blaha
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Zwölf Monate lang reisten Victoria Reitter und Reinfried Blaha durch Mittelamerika. Sie ließen sich treiben - ohne Plan und mit minimalem Budget. Dafür mit einem Rollstuhl.

Irgendwie wird es schon gehen, bekommt man gern zu hören, wenn man sich in einer (scheinbar) ausweglosen Situation befindet. Nun stelle man sich vor, man ist in einem kleinen Dorf im Dschungel, wo es keine Straßen, sondern nur Holperwege gibt. Man ist in seiner Mobilität ohnehin eingeschränkt, weil auf einen Rollstuhl angewiesen – und ausgerechnet dann geht dieser auch noch kaputt.

Reinfried Blaha, der seit einem Skiunfall vor acht Jahren von der Brust abwärts gelähmt ist, und Victoria Reitter befanden sich in genau dieser Situation. Natürlich ist am Ende alles gut ausgegangen. Aber von Anfang an.

Damals ein Paar, heute gute Freunde, beschlossen die beiden im August 2010, die nächsten Monate in Mexiko zu verbringen. Sie flogen nach Los Angeles, kauften dort einen alten Volvo und fuhren bis zum Südzipfel von Baja California, der Halbinsel im Westen Mexikos. Blaha arbeitete dort in einem Architekturbüro, Reitter in einer NGO. Die beiden hatten ein barrierefreies Haus am Meer gefunden. „Es war der schönste Fleck der Welt. Wir haben echt gedacht, da bleiben wir jetzt“, sagt Blaha. „Für immer“, ergänzt Reitter.

Hätte es keine Zollprobleme gegeben, wären die beiden womöglich noch immer dort. Blaha braucht wegen seiner Querschnittslähmung Katheter, um seine Blase zu entleeren. Da der Vorrat an sterilen Kathetern zur Neige ging, wurde Freund Tobi gebeten, bei einem Besuch Nachschub zu bringen. Der mexikanische Zoll nahm diesem in der Hauptstadt jedoch die Ware ab. „Der Zoll hat wohl geglaubt, der Tobi ist ein Katheterschmuggler.“

Blaha und Reitter fassten also einen Plan: „Wir fahren nach Mexiko City und holen uns die Katheter aus dem Zoll.“ Sie fuhren landeinwärts, bereisten das mexikanische Festland. Nach sechs Monaten lief ihr Visum aus. Nach Hause wollten sie aber noch nicht. Sie beschlossen, einfach weiterzufahren, um Zentralamerika zu erkunden. Zwei Mal verlängerten sie ihren Aufenthalt, sodass sie am Ende ein ganzes Jahr lang unterwegs waren – in Belize, Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua. Sie ließen sich treiben, planten höchstens ein paar Tage voraus.

Dass ihnen aufgrund der eingeschränkten Mobilität dabei etwas entgangen sei, glaubt Blaha nicht. „Die großen Sehenswürdigkeiten haben wir uns alle gegeben.“ Und während Reitter etwa eine Tempelanlage von allen Seiten erkundete, saß Blaha im Schatten, inhalierte die Mystik des Ortes und zeichnete die jahrtausendealten Pyramiden in sein Skizzenbuch. „Ich hab die Pyramiden so genau gesehen, dass ich sie noch immer im Kopf habe.“

Sie reisten mit wenigen Gepäck – vom Rollstuhl und den Kathetervorräten einmal abgesehen – und mit minimalem Budget. Übernachtet wurde meist im Zelt, bei Couchsurfing-Bekanntschaften oder im Auto. In gefährlicheren Gegenden suchten sich die beiden die günstigsten Herbergen, die sie finden konnten. Ihr Geheimtipp für barrierefreies Reisen: Stundenhotels. „Sie waren fast immer zugänglich, weil sie so diskret waren, dass man mit dem Auto praktisch bis ins Zimmer fahren und dahinter den Vorhang schließen konnte.“ Als sie wegen einer Autopanne eine Woche festsaßen, mieteten sie sich stundenweise in ein Love Shack ein.


„Wir waren einfach Aliens.“Barrierefreiheit ist in vielen Regionen Zentralamerikas ein Fremdwort. Blaha erzählt von einem Couchsurfing-Freund, der in seinem Profil auf der Online-Bettenplattform „accessible“ angegeben hat – in Wirklichkeit war sein Treppenhaus so eng, dass man kaum um die Ecke gekommen ist, wenn man zu viert den Rollstuhl hinaufgetragen hat. In Städten kamen die beiden dank der vielen hohen Stufen, Kanten und Schlaglöcher nur schleppend voran. Und als sie gegen Ende der Reise ihr Auto in Managua zurückließen, um per Boot den kaum erschlossenen Osten Nicaraguas zu erkunden, bedeutete dies auch, dass Blaha, sein Rollstuhl und das Gepäck irgendwie in ein kleines Boot manövriert werden mussten, was immer wieder eine kleine Menschenschar anlockte, die sich das umständliche Schauspiel der beiden erstaunt ansah.

„Das war auch lustig, weil wir versucht haben, möglichst unauffällig zu sein, um nah an die lokale Bevölkerung ranzukommen. Aber wir waren einfach Aliens“, sagt Blaha. Querschnittsgelähmte Menschen würden dort nur zu Hause sitzen, erzählen beide, oder sich mit Rollstühlen fortbewegen, „die bei uns im Zweiten Weltkrieg verwendet wurden. Da habe ich gesehen, wie wahnsinnig privilegiert ich bin, dass ich einen custom-made Rolli habe, der für meine Größe gemacht ist. Es könnte auch anders sein.“

Und dann passierte es. In Ostnicaragua, am „gefühlten Ende der Welt“, brachen der Reihe nach die Kugellager des Rollstuhls ab, schließlich löste sich ein ganzes Vorderrad. Sand und Salz hatten dem Gefährt zugesetzt. Um voranzukommen, musste Reitter ihren Freund auf die Hinterreifen gekippt schieben – eine zähe Angelegenheit.

„Wir waren in diesem Dorf gestrandet und konnte nicht weiter“, erzählt Blaha. Doch eines hatte er im Lauf der Reise gelernt, wie er erzählt: „Viele Leute sagen zu mir: ,Das und das geht mit einem Rollstuhl nicht.‘ Ich habe für mich lernen müssen, selbst herauszufinden, was ich kann und was nicht. Auf der Reise hat es immer wieder Barrieren gegeben, und immer wieder haben wir eine Lösung gefunden. Die Grenzen sind oft nur in unseren Köpfen.“

Dementsprechend war er recht entspannt, als ihm mitten im Nirgendwo der Rollstuhl versagte. Schließlich konnten die beiden einen etwa 80-jährigen Schweißer namens Mister Silvio finden, der ihnen das Vorderrad kurzerhand wieder anschweißte. Irgendwie geht es also doch immer.

Reisen mit Rollstuhl

Reinfried Blaha und Victoria Reitter waren ein Jahr lang in Zentralamerika unterwegs. Blaha ist Architekt und lehrt „Barrierefreies Bauen“ an der TU Graz. Seit einem Skiunfall ist er querschnittsgelähmt. Reitter studiert Kultur- und Sozialanthropologie in Wien.

Vortrag. Am 15.Oktober erzählen die beiden bei einem Film-, Musik- und Fotovortrag von ihrer Reise. 19 Uhr, Fabrik Publik in der Seestadt, Aspern, Bernhardinerallee 1, 1220 Wien. Eintritt frei.

>> zum Facebook-Auftritt der beiden

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.10.2014)

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