Die Kommission übt Kritik an Polizei, Betreuer und Staatsanwaltschaft. Trotz des Berichts gilt der Fall Kampusch für die Staatsanwaltschaft als abgeschlossen.
Wien. Der mit Spannung erwartete und am Mittwoch veröffentlichte Endbericht der Evaluierungskommission zum Entführungsfall Natascha Kampusch birgt einiges an Sprengstoff. In dem 58 Seiten starken Dokument kritisiert die Expertengruppe unter ihrem Vorsitzenden Ludwig Adamovich Polizei, Staatsanwaltschaft und die Betreuer des Opfers. Am brisantesten ist, dass die Kommission Spekulationen über weitere Mittäter von Entführer Wolfgang Priklopil – wenn auch verklausuliert – zusätzliche Nahrung gibt.
So sei durch den von Kampuschs Betreuern aufgebauten „Schutzschirm“ die Polizeiarbeit erheblich erschwert worden. Das bedeutet, dass die Ermittler das Umfeld von Täter und Opfer zu wenig durchleuchteten. Tatsächlich wurde der Aussage einer zwölfjährigen Augenzeugin, die bei der Kampusch-Entführung einen zweiten Mann beobachtet haben wollte, zumindest öffentlich keine weitere Bedeutung zugemessen. Begründung: die Aussage eines Kindes sei erstens kritisch zu bewerten und zweitens von Kampusch selbst in Abrede gestellt worden. Dass die Augenzeugin doch die Wahrheit gesagt haben dürfte, sieht die Kommission dadurch belegt, dass sie Kampusch bei der Betrachtung eines Suchplakates eindeutig als jenes Mädchen identifizierte, dessen Entführung sie am 2. März 1998 beobachtet hatte.
Äußerst kritisch bewertet die Kommission jene Falschinformation, die Soko-Leiter Nikolaus Koch nach Kampuschs Selbstbefreiung im Sommer 2006 an die Öffentlichkeit getragen hatte. Demnach hatte Priklopil für den Tatzeitpunkt ein Alibi (was er laut Akten nicht hatte). Koch sagt heute, keine bewusste Falschinformation gestreut zu haben, sondern wirklich und fälschlicherweise daran geglaubt zu haben.
Seltsamer Hausbesuch
Die Kampusch-Kommission bezeichnet das in ihrem Bericht als „bemerkenswert“, denn: „Diesfalls hätte es noch einen oder zwei weitere Täter geben müssen.“ Entsprechende Ermittlungen blieben aus. Der Bericht erörtert auch einen nachträglichen Besuch zweier Mitglieder der Sonderkommission (Soko) bei jenem Hundeführer, der wenige Tage nach Kampuschs Entführung einen Hinweis auf Priklopil gegeben hatte. Laut dem Hundeführer sagten die beiden Beamten zu ihm: „Bitte sag nichts.“ Demgegenüber behauptet einer der Beamten, er habe ihm lediglich den Rat gegeben, gegenüber den Medien nichts zu sagen.
Unklar bleibt auch, wer den Besuch der beiden Kriminalisten angeordnet hatte. Laut Aktenvermerk der beiden war es Soko-Leiter Koch. Dieser bestätigt das nicht.
Eine weitere Diskrepanz ergibt sich aus dem Inhalt der Aussage des Hundeführers. Dieser soll bei seinem telefonischen Hinweis vom 14. April 1998 davon gesprochen haben, dass Priklopil eine Vorliebe für kleine Kinder und Waffen habe. Beim Besuch der beiden Soko-Beamten im September 2006 bestritt der Polizist das aber. Jener Chefinspektor, der 1998 den telefonischen Hinweis seines Kollegen entgegengenommen hatte, blieb vor der Evaluierungskommission aber bei seiner Aussage, er habe diese Worte damals vernommen. Im Bericht heißt es, die Kommission sehe „keinen Grund, die Aussagen von Chefinspektor F. in Zweifel zu ziehen“.
Den von Ex-Bundeskriminalamtschef Herwig Haidinger erhobenen Vorwurf der versuchten Vertuschung von Pannen wegen des Nationalratswahlkampfes 2006 sieht die Kommission nicht bestätigt. Begründung: in diese Richtung deutbare E-Mails von Kabinettsmitarbeitern an Haidinger ließen keine Rückschlüsse darauf zu, ob die damalige und inzwischen verstorbene Innenministerin Liese Prokop dies persönlich gewünscht hätte, oder ob es „nur“ der Wunsch eines ihrer Mitarbeiter gewesen sei.
Auf Basis des Berichts gab die Kommission Empfehlungen ab: Kriminalfälle von „besonderer Bedeutung“ sollten durch interdisziplinär besetzte Sonderkommissionen besetzt werden; standardisierte Frage- und Checklisten könnten verhindern, dass Informationen über nicht vorhandene Alibis verloren gingen; Kabinettsmitglieder von Ministern müssten schriftlich festhalten, ob Willenskundgebungen an Dienststellen des Ressorts persönliche Meinungen oder Weisungen des Ministers sind.
Trotz des Berichts gilt der Fall Kampusch für die Staatsanwaltschaft als abgeschlossen. Die Wiener Anklagebehörde teilte mit, dass man sich nach Sichtung des von der Kommission übermitteln Materials dazu entschlossen habe. Eine Meldung des Magazins „Stern“, wonach gegen einen ehemaligen Geschäftspartner Priklopils ermittelt werde, wurde dementiert.
AUF EINEN BLICK
■Der Bericht: Innenminister Günther Platter hat im Februar den Auftrag gegeben, den Entführungsfall Natascha Kampusch zu evaluieren. Vorsitzender der Kommission war der frühere Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Ludwig Adamovich.
■Download: Der 58 Seiten starke Abschlussbericht wurde am Mittwoch Platter übergeben. Er findet sich auf der Internet-Seite des Innenministeriums (www.bmi.gv.at).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2008)