„Egal, wie tief die Pfützen sind“

Immobilienpreise wie in Wien. Ein ganzer neuer Stadtteil mit Shoppingcenter und Büroturm in Planung. In den Außenbezirken aber geisterhafte Bauskelette, Armut, Verfall. Sofia: ein Stadtbild.

Ueber Balkanstädte sagt man in aller Regel, sie hätten eine europäische Fassade, hinter der sich eine orientalische – das heißt pittoreske, aber chaotische Wirklichkeit – verberge.“ So schreibt der Historiker Mark Mazower in seiner Geschichte des Balkans. Die bulgarische Hauptstadt Sofia birgt eine besondere urbanistische und architektonische Situation. Die im 19. Jahrhundert neu gewählte bulgarische Hauptstadt nahm sich Wien zum architektonischen und stadtplanerischen Vorbild. Um 1900 erreichte diese Verbindung ihren Höhepunkt. Was allerdings seinerzeit im Wunsch nach neuer zentraleuropäischer Identität seinen Niederschlag in einem ehrgeizigen städtebaulichen Programm fand, ist gegenwärtig vor allem vom Bedarf, ökonomisch aufzuholen, geprägt. Bei der nahezu ungebremsten Investorentätigkeit bleibt eine übergreifende Stadtplanungspolitik vielfach auf der Strecke.

Sofia besitzt keine Altstadt im weit zurückliegenden historischen Sinne, obwohl die Geschichte der Stadt dicht und heterogen ist. Der Stadtkern stammt aus dem 19.Jahrhundert. Die vormalige Siedlungsstruktur Sofias war über Jahrhunderte von der Mahala der osmanischen Stadt bestimmt. Die bulgarischen, türkischen, armenischen Mahalas besaßen jeweils einen eigenen Namen und spiegelten die Ethnien. Die amorphe orientalische Stadt besaß eine ihr eigene Räumlichkeit voller Unregelmäßigkeiten und abwechslungsreichen Perspektiven.

Die Unabhängigkeit Bulgariens von der osmanischen Herrschaft kam für Sofia einem Paukenschlag gleich. 1879 erhielt das Land seine Verfassung. Sofia wurde zur neuen Hauptstadt des befreiten Bulgariens und zum kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt des Landes. Prinz Alexander von Battenberg wurde Fürst von Bulgarien, blieb es allerdings nicht lange. 1886 brachte ihn eine Offiziersverschwörung zu Fall, und er dankte ab. Mit der Wahl von Ferdinand I. von Sachsen, Coburg und Gotha zum Fürsten und Zaren von Bulgarien ging eine vollständige kulturell-politische Umorientierung einher. Während sich das Land davor auf Russland ausrichtete, orientierte sich Bulgarien nunmehr über seinen neuen Fürsten an Österreich-Ungarn.

Dies wirkte sich unmittelbar auf die Neugestaltung Sofias aus. Die groß angelegte urbane Verwandlung der Hauptstadt begann 1878. Dabei ging es um weit mehr als um städtebauliche Maßnahmen. Bulgarien suchte in deutlicher Abgrenzung von der orientalischen Kultur in zentraleuropäischer Ausrichtung seine neue Identität. Sofia wurde von der orientalischen Stadt zur europäischen Metropole umgestaltet. Die europäischen „Stadtverschönerungen“ des 19. Jahrhunderts und vor allem Wien dienten als Vorbild. Insbesondere sollten die Spuren der osmanischen Herrschaft getilgt und das neue politisch-kulturelle Selbstbewusstsein eines europäischen Bulgariens demonstriert werden. Zu dieser städtebaulichen und architektonischen Aufgabe wurden in Ermangelung eigener akademisch ausgebildeter Architekten Fachkräfte aus anderen Ländern herangezogen. Die führende Rolle übernahmen die Architekten aus der Donaumonarchie. In der ersten Phase des Stadtumbaus von Sofia waren Ingenieure und Architekten der österreichisch-ungarischen Monarchie federführend. Die Affinität zum Wiener System der Ringstraße ist offensichtlich.

Das Urbanisierungsprogramm betraf nicht zuletzt die städtische Infrastruktur wie Wasserleitung, Kanalisationssystem. Auch die zunehmend wichtigere Stromversorgung der Stadt wurde bewältigt, überdies wurde ein Straßenbahnnetz im Zuge der Umgestaltung errichtet. Die Bevölkerungszahl Sofias stieg in jenen Jahren sprunghaft an, sie erreichte um 1910 an die 100.000 Einwohnern, 30 Jahre vorher waren es noch um 15.000 gewesen. Ab der Jahrhundertwende bauten die ersten bulgarischen Architekten und Ingenieure, von denen etliche am Wiener Polytechnikum, der heutigen Technischen Universität, ausgebildet waren.

Fast alle architektonischen Spuren des Osmanischen Reiches wurden in jenen Jahren in Sofia getilgt, zahlreiche Moscheen wurden zerstört. An der Stelle der Kirche Sveti Sedmotchislenici stand ehemals die sogenannte Schwarze Moschee, erbaut vom Architekten Hodsha Mimar Sinan um 1528. Ihr Name rührte vom schwarzen Marmor, der reichlich Verwendung beim Bau des Minaretts gefunden hatte. Ab 1899 wurde die Moschee zur orthodoxen Kirche umgebaut.


Im Hof der Synagoge
blühen die Akeleien. Die Baumwurzeln schieben sich unter dem Pflaster durch, vereinzelt stehen Kübelpflanzen, Oleander, einige Rosenstöcke und verleihen dem Vorgarten ein fast wohnliches Gepräge. Das Vordach ist eine zierliche Konstruktion aus Glas und ornamentierten Walzeisen. Friedrich Grünanger erbaute 1904 bis 1910 die Centralna Evrejska Sinagoga. Grünanger stammte aus Siebenbürgen, studierte an der Akademie in Wien bei Friedrich von Schmidt. Er baute unter anderem auch den von Alfred Kolar begonnenen Militärklub, den er 1903 fertigstellte.

Durch einen Seiteneingang im Hof führt der Weg zum kleinen Jüdischen Museum im Obergeschoß des Gebäudes. An der Küche vorbei, aus der ein intensiver Duft von Backwaren strömt, führt die Treppe zum Einraummuseum, das mit wenigen Exponaten, dafür umso berührender eine Geschichte der Juden in Bulgarien zeigt. Mit maschingeschriebenen Legenden versehen, zeugen die Exponate auf bescheidene Weise vom Leben der sephardischen Juden. In einem Eck ist ein Teil eines Wohnraumes nachgestellt, an der Wand hängt eine Schwarzweißfotografie von Elias Canetti, der in seinen Erinnerungen die Bilder des jüdischen Bulgariens, des Lebens der spaniolischen Juden in Rustschuk, heute Russe, beschwor.

In der „Geretteten Zunge“ erzählt er von der alten Handelsstadt an der Donau, über den Einfluss Österreichs: „Nicht nur waren beide Eltern in Wien in die Schule gegangen, nicht nur sprachen sie untereinander deutsch: Der Vater las täglich die ,Neue Freie Presse‘, es war eine großer Augenblick, wenn er sie langsam auseinanderfaltete. Ich wusste, dass die Zeitung von Wien kam, das war weit weg, vier Tage fuhr man hin auf der Donau.“


Das Grand Hotel Bulgaria
am Boulevard Zar Oswoboditel, einstiger Mittelpunkt der gesellschaftlichen Lebens, strahlt renoviert nach außen, innen führt es eine Halbexistenz. Im Erdgeschoß verströmt das Café den ästhetischen Charme des ausgeronnenen Sozialismus. Mit riesigen Stoffbahnen umhüllte, überdimensionierte Beleuchtungskörper hängen bedrohlich über einem weißen Kunststoffmobiliar, violette und pistaziengrüne Farbakzente schaffen jene eigenwillige, künstliche Stimmung, welche die Gastronomiebetriebe der ehemaligen sozialistischen Länder atmosphärisch alle einander ähnlich erscheinen ließen. In den Vitrinen türmen sich die knallfarbigen Quader und Kugeln der Patisserie und Tortenstücke. Die oberen Geschoße des Grand Hotel stehen leer. Das Hotel ist nicht in Betrieb. In den vergangenen Jahren wurde in Sofia immens viel gebaut, gleichzeitig lässt die urbane Infrastruktur zu wünschen übrig. Die Immobilienpreise sind in unglaubliche Höhen gestiegen, auf ein Preisniveau, das sich mit Wien vergleichen lässt. Die Architektur ordnet sich dabei weitgehend investorischen Vorstellungen unter. Das Serdica Center wird mit 50.000 Quadratmeter Bürofläche auf drei Geschoßen zu einem der größten Einkaufs- und Bürozentren von Sofia werden. Die Investoren, ECE Projektmanagement und Sparkassen Immobilien AG, die Gesellschaft der österreichischen Erste Bank Gruppe für Investitionen in Immobilien, rechnen mit hohen Renditen.

ECE plant übrigens in Sofia ein ganzes Stadtquartier. Im „Europe Park“ soll ein Shoppingcenter mit 70.000 Quadratmeter Mietfläche entstehen und Sofias höchster Büroturm mit 40 Stockwerken ist geplant. In der Stadt schießen die Neubauten aus dem Boden, in den äußeren Bezirken muten die Bauskelette nahezu geisterhaft an. Hier wird es schwierig, von Architektur im gestalterisch reflektierenden Sinne zu sprechen. Formal und typologisch sind diese Bauten ein Mix aus scheinbar willkürlich um sich greifenden Bauten und Materialien.

Doch obwohl sich seit Ende der 1990er-Jahre Bulgarien langsam ökonomisch zu stabilisieren beginnt, ist die Armut, gemessen an mitteleuropäischen Standards, noch immer sehr groß. In der Stadt ist sie dort, wo sich die ethnischen Minderheiten konzentrieren, am größten. Etwa in den Roma-Siedlungen, provisorischen Quartieren, die aus illegalen Gebäuden bestehen, deren Infrastruktur unter jedem Standard liegt. Es gibt keine Wasserversorgung und Heizung.


Business ist in Sofia
ein magisches Wort. Die Sofioten sprechen es mit einem weichen und zugleich zischend gepressten Laut aus. Wer Business pflegt, hat wenig Zeit für andere Gedanken oder Taten. Arbeitslosigkeit, Armut, ja Kultur wird von manchen mit einer eher wegwerfenden Handbewegung kommentiert. Business will gepflegt werden, und da heißt es rasant an der Oberfläche bleiben.

Ein Sofioter Architekt, mächtig im Geschehen, eilt durch das Café im Radisson Hotel, nein, für ein Gespräch hat er keine Zeit. Hier plätschert Klaviermusik im Hintergrund, der Blick fällt auf die Alexander-Newski-Kirche, das Reitermonument des Zaren und Befreiers, ein wunderbarer Blick auf die Stadt der Jahrhundertwende. Am Nebentisch empfängt ein junger, dynamisch wirkender Mann mit österreichisch gefärbtem Deutsch und dem Vernehmen nach einer Versicherungsgesellschaft zugehörig zukünftige Mitarbeiter. Sie sollen auf Provisionsbasis arbeiten, dies versucht er mit einfach gewählten Beispielen zu erklären. In seinen Worten heißt dies: viel Arbeit viel Geld, keine Arbeit kein Geld.

Die Kandidaten erscheinen. In den Pausen erklärt er der jungen bulgarischen Dolmetscherin seine Sicht der Welt. Vor einigen Jahren noch sei er in „diesen“ Ländern mit seinem BMW aufgefallen, ja, und Leistung, das würden manche hier verstehen – und zwar jene, die „hungrig“ seien. Aber viele seien ganz einfach unfähig und demotiviert. Jawohl. Im vorvorigen Jahrhundert wäre der junge Mann mit seinem Weltbild als Kolonialist erster Güte durchgegangen. Die Dolmetscherin wirkt hilflos, aber höflich, denn Widerspruch scheint zwecklos. „Schaun S'“, beginnt jeder dritte Satz der Gegenseite in einer Lautstärke, die das Ohr schmerzen lässt.


In Bojana, einem Vorort von Sofia
im Vitoscha-Gebirge, wohnt, wer besser gestellt ist. In Bojana stehen die Villen inmitten von viel Grün. Hier ließ sich einst auch der bulgarische Langzeit-Staatschef Todor Schiwkow eine Residenz bauen. Die neue Villenarchitektur trumpft mit einer speziellen Typologie auf, deren vorrangige Botschaft jene des sichtbaren Wohlstandes ist. „Mutrobarock“ nennen die Bulgaren spöttisch die gestalterisch lauten Wohntempel des raschen Aufstiegs und neuen Wohlstandes.


Zurück im Zentrum Sofias.
Der gepflasterte Boden der Han Asparuh gleicht einem Mosaik aus Material und Zeit. Wie alle Straßen in Sofia ist ihr Belag älteren Datums, die Spuren der Jahrzehnte sind mehr als sichtbar. „Der Bus fährt, er schaukelt und bremst und ruckelt, als bestünde die Ladung aus Kartoffeln“, schrieb Ilja Trojanow in seiner exemplarischen Geschichte Bulgariens. Die Menschen, meinte er, „ertragen alles, egal, wie tief die Pfützen sind, in die sie auf den Straßen der Hauptstadt stolpern“. ■

SOFIA: Daten und Fakten

Die bulgarische Hauptstadt gilt als
eine der ältesten Städte Europas: Archäologische Funde lassen die Vermutung zu, dass hier sogar schon vor rund 8000 Jahren eine steinzeitliche Siedlung bestand.

Heute zählt Sofia gut 1,2 Millionen Einwohner. Zu den wichtigsten Minderheiten gehören Roma (1,5 Prozent der Bevölkerung) und Türken (0,5 Prozent der Bevölkerung).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2008)

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