Vom Islamismus nicht mehr viel übrig

Unter den großen Parteien in Ankara ist es bislang nur die AKP, die sich für die notwendigen Reformen einsetzt. – Replik auf „Vom Kemalismus nicht mehr viel übrig“, von Detlef Kleinert, 19. Juli.

Detlef Kleinerts Bild der heutigen Türkei ist ein Horrorszenario, das auch von europaskeptischen Medien in der Türkei gezeichnet wird. Doch mit der Wirklichkeit hat es nur sehr wenig zu tun.

Die Türkei erlebt zurzeit einen Machtkampf. Kleinert suggeriert, dass böse „Islamisten“ in der derzeitigen Regierung gegen gute Kemalisten kämpfen, wobei die Kemalisten die weltliche Ordnung verteidigen und die Islamisten einen Gottesstaat errichten wollen. Dafür liefert Herr Kleinert das Beispiel einer Broschüre der Stadtverwaltung von Tuzla (160.000 Einwohner, eine von 3225 Gemeinden in der Türkei), die Gewalt gegen Ehefrauen aus dem Koran begründet. Ein Skandal, übrigens auch in der Türkei! Doch was sagt uns das über die Entwicklungen der letzten Jahre?

Der wirkliche Skandal war bis vor kurzem ein anderer: dass in der modernen Türkei sexuelle Gewalt gegen Frauen nur als Vergehen gegen die Ehre, nicht aber als Gewalt gegen Individuen bestraft wurde. Dass Vergewaltiger begnadigt wurden, wenn sie ihr Opfer heiraten wollten, Ehrenmorde nachsichtig beurteilt wurden und es Vergewaltigung in der Ehe nicht gab. Dieses Strafrecht wurde von kemalistischen Reformern aus Italien übernommen! Seit 2005 hat die Türkei ein neues Strafrecht, dass den Begriff der „Ehre“ entfernt und die individuellen Rechte von Frauen in den Mittelpunkt gestellt hat. Dieses Strafrecht wurde mit der AKP-Mehrheit im Parlament beschlossen, wie viele andere Reformen: ein modernes Arbeitsrecht (2003), eine Parlamentskommission zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, neue Familiengerichte in der ganzen Türkei.

Alte Eliten versus neue Gruppen

Im türkischen Parlament sind tatsächlich nur acht Prozent Frauen. Das ist zu wenig und muss sich ändern, doch es ist ein türkischer Rekord. Auch hilft der Islam als Erklärungsversuch wenig: Im christlichen Georgien sind es sechs Prozent, im orthodoxen Athen nur wenig mehr als in Ankara. Patriarchalische Werte sind nicht auf den islamischen Kulturkreis beschränkt. Auch hat die AKP sowohl prozentual als auch absolut mehr weibliche Abgeordnete als die „säkularen“ Parteien CHP und MHP.

Oder der Alkohol. Eine konkrete Zahl: Der Bierkonsum in der Türkei ist von 2006 bis 2007 von 803 Millionen Liter auf 844 Millionen Liter gestiegen. Es gibt Versuche, Alkoholkonsum durch hohe Steuern einzuschränken (keine wirklich türkische Idee, man muss dafür nur nach Skandinavien oder in manche US-Bundesstaaten blicken), doch bislang mit geringem Erfolg. Von der Scharia ist die Türkei heute weiter entfernt als je in ihrer Geschichte.

Worum geht es also im derzeitigen türkischen Machtkampf? Es ist ein Kampf um Macht und Einfluss zwischen Teilen einer alten Elite, die es gewohnt ist, auch ohne demokratische Kontrolle zu regieren, und neuen Gruppen, die endlich auch mitreden wollen. Es geht tatsächlich um mehr Rechte und mehr Demokratie für Frauen, aber auch für Kurden oder Christen. Dahinter steht die Frage, ob die Türkei eine europäische Demokratie werden will. Unter den großen Parteien in Ankara ist es bislang nur die AKP, die sich für die notwendigen Reformen einsetzt. Der Vorwurf, den man machen muss, ist, dass dies oft zu langsam erfolgt. Doch von einer Islamisierung ist nichts zu sehen.

Absurd wird es, wenn Kleinert schreibt, dass dem Militär mit Verhaftungen gezeigt werden soll, dass die Verteidigung des Laizismus als strafbar angesehen werden könne. Die Anklage gegen ultranationalistische Exgeneräle und Polizisten lautet auf Bildung einer terroristischen Vereinigung. Ziel dieser Vereinigung, bekannt unter dem Namen Ergenekon, soll es gewesen sein, eine chaotische Situation zu schaffen, die das Militär zum Eingreifen „zwingt“. Dazu kam die Veröffentlichung von Tagebüchern eines Exadmirals im Frühjahr 2007 über konkrete Putschpläne innerhalb der Armee 2004. Mord, versuchter Mord und Staatsstreich sind keine Kavaliersdelikte. Den Beschuldigten werden Kapitalverbrechen vorgeworfen. Dass diese nun untersucht werden, ist sehr wichtig für die türkische Demokratie.

„Seltsames Duell“

Eine wichtige Rolle bei der Offenlegung krimineller Verbindungen spielt die erst im November 2007 gegründete Zeitung „Taraf“. Diese als „Sprachrohr Erdogans“ zu bezeichnen ist so zutreffend, wie „Die Presse“ zum Sprachrohr der kommunistischen Partei Österreichs zu machen. „Taraf“ ist eine der wenigen unabhängigen Zeitungen, in der liberale, nichtkemalistische Intellektuelle schreiben. Der bekannte Menschenrechtler Murat Belge sagte uns erst letzte Woche, die wahre Angst der Kemalisten sei die Demokratie. Etyen Mahcupyan, Chefredakteur der türkisch-armenischen Zeitung „Agos“, nannte den Machtkampf in einer Kolumne am 28.März ein „seltsames Duell. Die Seiten sind Demokratie und Faschismus. Die konservative Partei ist für Demokratie, wohingegen die elitären Gruppen innerhalb des Staates Faschismus befördern.“ Sind der liberale Belge und der Armenier Mahcupyan in den Augen von Herrn Kleinert etwa auch Islamisten? Vielleicht ist Herr Rehn doch nicht so ignorant, sondern einfach besser informiert?

Gerald Knaus und Ekrem Eddy Güzeldere arbeiten für ESI in Istanbul und sind Autoren der Studie „Geschlecht und Macht in der Türkei“ (www.esiweb.org)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2008)

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