„Wachstum as usual“ wird es nicht mehr geben

Die Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik stellen sich anders, wenn die Verantwortlichen sich von der Wunschvorstellung verabschieden, dass mehr als ein Prozent Wachstum langfristig wieder möglich sein werden.

Italien rutscht in die Deflation, die deutsche Wirtschaft ist im zweiten Quartal geschrumpft und wird 2014 nur um gut ein Prozent wachsen. Im Euroraum geht sich gerade einmal Nullwachstum aus, und in Österreich liegt die aktuelle Prognose bei 0,8 Prozent. Der Internationale Währungsfonds hat die Aussichten für die Weltwirtschaft gerade wieder einmal gedämpft und warnt vor einer neuen globalen Wirtschaftskrise.

Das Strohfeuer nach der Wirtschaftskrise von 2008 war kurz und ist dabei zu erlöschen. Politik und Wirtschaft stehen ratlos vor der Frage, wie es sich wieder entzünden und in ein „nachhaltiges“ im Sinn von lang anhaltendem Wachstum überführen lässt. Ob die Therapie in konsequentem Sparen oder – im Gegenteil – in steigenden Staatsausgaben gesehen wird, ist dabei eine Frage des wirtschaftstheoretischen Geschmacks. Beide Strategien führen nicht zum Ziel.

Wo liegt das Problem?

Aber wo liegt das Problem? Die Elektronikbranche ist im HD-Rausch, der Städtetourismus boomt, und die Nachfrage nach Immobilien übersteigt in vielen Bereichen das Angebot. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vervielfacht. Von mageren Zeiten also keine Spur.

Nur in Prozent gerechnet wird der Zuwachs relativ zum gewachsenen Kuchen immer kleiner. Und die Treiber, die das Wachstum seit dem Zweiten Weltkrieg beflügelt haben, werden immer schwächer: Europa ist weitgehend gebaut, die Erwerbsbevölkerung schrumpft, natürliche Ressourcen sind knapp, immer mehr Konsumenten gesättigt, Exportmärkte in der Rezession, überschuldete Staaten sparen, und Investitionen werden unter diesen Bedingungen hinausgeschoben.

Die Folge: Die Wachstumsraten sind gering und werden in absehbarer Zeit auch nicht mehr wesentlich steigen. Davon sind immer mehr Experten überzeugt. Wir sollten also akzeptieren, dass „Wachstum as usual“ auf Dauer nicht durchhaltbar ist. Dann stellen sich Herausforderungen für die Wirtschaftspolitik aber anders, als wenn man darauf vertraut, dass mehr als ein Prozent Wachstum langfristig wieder möglich wären. Alle Politikbereiche – von der Wirtschafts- über die Sozial- bis zur Umweltpolitik, Gesundheit, Bildung und Familienpolitik, Frauen, Entwicklungszusammenarbeit und Sicherheit –, all das muss und kann auch funktionieren, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Das ist die eigentliche Herausforderung, vor der das neue wirtschaftspolitische Regierungsteam Schelling/Mitterlehner/Mahrer heute steht.

Beginnen wir mit der größten Sorge der meisten Menschen: Arbeitsplätze schaffen und erhalten. Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst, geht es darum, Arbeitsplätze auf alle, die einen Job suchen, zu verteilen. Das geht, wenn vor allem die heute besser verdienenden und meist über alle Maßen gestressten kürzer treten – sowohl was ihre Arbeitszeit als auch was die Intensität während der Arbeit, damit aber auch ihr Einkommen betrifft.

Kürzer arbeiten, weniger Lohn

Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich heißt diese bei den Gewerkschaften noch gar nicht populäre Perspektive. Sie wird von vielen gut verdienenden durchaus gutgeheißen und schafft so Platz für Arbeit und Beschäftigung von Menschen, die heute vom AMS bezahlt werden oder bereits ganz aus dem Erwerbssystem hinausgefallen sind. Und: Sie steigert die Lebensqualität derer, die kürzer treten, durch mehr Freizeit und weniger Stress bei der Arbeit.

Das entlastet auch die Staatskassen, was umso bedeutsamer ist, als mit dem BIP auch die Steuereinnahmen nicht mehr stetig zunehmen. Was ist schon dabei, wenn ein jahrzehntelang gut ausgebauter öffentlicher Sektor nicht ständig weiterwächst? Das erfordert dann auch eine offene und ehrliche Diskussion über mögliche „Kürzungen“, um woanders neue Gestaltungsspielräume zu eröffnen. Und es ermöglicht auch eine Umverteilung. Schließlich liegen seit Jahrzehnten fertig ausgearbeitete Vorschläge in den Schubladen sämtlicher Ministerien und Wirtschaftsforschungsinstitute, endlich die Steuerlast von Arbeit und Konsum auf Ressourcen und Vermögen zu verlagern. Es müsste einfach angegangen werden.

Schluss mit „Geiz ist geil“!

Gerade die Sozialpolitik ist gegenwärtig sehr vom Wachstum abhängig. Darauf zu vertrauen, dass die Konjunktur irgendwann wieder anspringt und alle Probleme löst, ist angesichts der immensen Strukturprobleme in den Bereichen Pensionen und Gesundheit besonders blauäugig. Wir werden angesichts der rasant steigenden Lebenserwartung nicht umhinkönnen, über unsere Lebensspanne hinweg länger zu arbeiten.

Das ist aber nur dann möglich, wenn wir uns im Erwerbsleben so gesund erhalten, dass wir sowohl die Arbeit im Alter als auch die idealerweise flexibel angelegte Zeit der Pension zufrieden genießen können. Aber: Sind wir dann noch wettbewerbsfähig? Können wir uns das als kleines Land in einem Meer von wirtschaftlichen Haifischen überhaupt leisten?

Hier ist eine intelligente Re-Regionalisierung vonnöten, die uns unabhängiger macht von Exporten in alle Teile der Welt – nur um billig in Asien einkaufen zu können.

Lassen wir den Euro in der Region und beschäftigen hier nicht nur Landwirtschaft und Tourismus, sondern zunehmend wieder Gewerbe und Industrie, die uns mit hoch qualitativen, langlebigen und maßgeschneiderten Produkten versorgen kann. Dann müssen wir uns als Konsumenten aber auch von der gängigen „Geiz ist geil“-Mentalität verabschieden und die Leistung der heimischen Wirtschaft mit unserem Einkäufen honorieren.

Fokus auf den Mittelstand

Dazu braucht es schließlich auch ein Bankensystem, das wieder die reale Wirtschaft solidarisch mit dem nötigen Kapital versorgt, anstatt dahin zu gehen, wo man noch Wachstum vermutet, das sich früher oder später ohnehin nur als große Blase herausstellen wird. Hier muss Wirtschaftspolitik viel mehr Mittelstandspolitik werden, anstatt vor allem die Interessen großer kapitalmarktgetriebener Unternehmen zu befriedigen.

Jede Politik braucht Ziele und muss sich am Erreichen derselben messen lassen. Dass sich die Politik nicht mehr lang die hohen Wachstumsraten des BIPs an ihre Fahnen heften kann, für deren Erreichung sie auch in der Vergangenheit übrigens nur zu einem kleinen Teil selbst verantwortlich war, hat schon der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy verstanden und eine hochrangige, von zwei Nobelpreisträgern geleitete, Kommission gebeten, neue „Indikatoren“ für den Fortschritt der Wirtschaft vorzuschlagen.

Selbst die EU-Kommission startete die Initiative „das BIP und mehr“, die dazu führen soll, neben der Wirtschaftsleistung auch den Ressourcenverbrauch und dasjenige zu bemessen, worum es letztlich jeder Politik als Ziel gehen sollte: unser aller Lebensqualität. Und diese muss auch ohne Wachstum erreichbar bleiben.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

DER AUTOR



Friedrich Hinterberger
hat in Linz und Gießen Volkswirtschaftslehre studiert, leitet seit 15 Jahren das Sustainable Europe Research Institute (Seri) in Wien und forscht auch an der Wirtschaftsuni. Sein aktuelles Buch: „Wachstumswahn – was uns in die Krise führt und wie wir wieder herauskommen“ (mit Christine Ax). Er ist Mitglied im Vorstand des Austrian Chapter des Club of Rome. [ Privat ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2014)

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