Hunger und Blutdurst

Wie eine spannende Fiktion liest sich John Leakes penible Dokumentation über JackUnterweger, der (mindestens) zehn Frauen ermordet hat. Vom Modellfall des sozialen Strafvollzugs zum Klassiker heimischer Sexualverbrecher.

Neben dem „Neujahrskonzert“ und dem „Herrn Karl“ wurde Österreich unter anderem auch durch den Fall der acht Jahre gefangen gehaltenen Natascha Kampusch weltberühmt. Noch berühmter womöglich durch den Fall Elisabeth F., die von ihrem Vater über 21 Jahre im Keller seines Hauses ein-gesperrt und wiederholt geschwängert wurde. Und jetzt liegt – wie zur Bekräftigung dieses nationalen Charakteristikums – auch John Leakes Buch, „Der Mann aus dem Fegefeuer. Das Doppelleben des Jack Unterweger“, in der präzisen Übersetzung von Clemens J. Setz, vor.

1994 entfesselte der Strafprozess gegen Unterweger in Graz einen wahren Overkill in den Medien. Jack Unterweger, wegen Mordes an der 18-jährigen Monika Schäfer zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, wurde 1990, nach 15 Jahren, begnadigt. Doch kaum vier Jahre später klagte man
ihn wegen einer Mordserie an, diesmal an elf Frauen – die meisten Opfer waren mit ihrem eigenen, speziell geknoteten BH erwürgt worden – und verurteilte ihn in neun Fällen auf Grund von Indizien. Es handelte sich um den ersten österreichischen Strafprozess, bei dem DNA-Analysen und Erkenntnisse von sogenannten Profilern in die Beweislage einflossen. Unterweger erhängte sich in der auf die Urteilsverkündigung folgenden Nacht. Er hatte nicht nur kein Geständnis abgelegt, sondern war, da er gegen das Urteil berufen hatte, jedenfalls in formalem Sinn als Unschuldiger gestorben.

Was trieb den ehemaligen Discjockey, Kellner und Zuhälter dazu, kaum begnadigt, wieder zu morden? Der einzige Kommentar John Leakes, der in Wien Philosophie studiert hat, besteht in einem berühmten Zitat Ludwig Wittgensteins: „Wenn ein Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen“. Neben diesem Sprachzweifel, einander „wirklich“ zu verstehen, der aber immerhin noch erlaubt, das Sprachspiel zu spielen, wäre eine noch radikalere Interpretation denkbar: Selbst wenn sich das Löwengebrüll menschlicher Vokabel und Grammatik bequemte, hätte es uns nichts anderes mitzuteilen als Hunger und Blutdurst.

Das 456 Seiten starke Buch mit einem Anhang, bestehend aus Quellen, Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhard Haller, das die kriminologischen und psychologischen Aussparungen Leakes ergänzt, ist zweifellos die definitive Darstellung des
Falles. Dabei lässt der Detailreichtum dieses über Jahrzehnte reichenden österreichischen Panoramas Leakes Dokumentation eher wie eine spannende Fiktion erscheinen. Seine Streifzüge reichen von der Einschicht des Kärntner Wimitztales über Wien oder Prag bis nach Los Angeles; unter seinen Gesprächspartnern finden sich unter anderem FBI-Profiler, österreichische Parade-
intellektuelle, Prostituierte, Rechtsanwälte und Ermittlungsbeamte. Die rasanten Orts- und Zeitwechsel, „authentischen“ Milieuschilderungen, die persönlichen Stimmungen und Motive ungezählter Betroffener fügen sich zu atemlosen Bildern, wie man sie sonst nur aus spannenden Thrillern kennt.

Der charismatische Jack Unterweger hat sich – einem Chamäleon gleich – stets Mentalitäten und Trends angepasst, diese aber gleichzeitig durch seine mörderische Karriere auch plastisch werden lassen. Darunter fällt zweifellos der soziale Strafvollzug, zu dessen Modellfall Unterweger wurde, und den er wenig später durch seine Mordserie nachhaltig diskreditierte. Wobei dieser mit Schuld und Reue operierende Ansatz ge-genüber gentechnischer Unfreiheit immer noch humaner erscheint; eine Gegenposition zu „Nulltoleranz“, „Kosten-Nutzen-Rechnungen“ und einer Gefängnisgesellschaft mit womöglich privatisierten Gefängnissen.

Allenfalls hier wird Leakes Skepsis gegenüber Intellektuellen oder Beamten wie dem Leiter der Strafanstalt Stein, Hofrat Schreiner, spürbar, die sich gelegentlich wider besseres Wissen der Förderung Unterwegers „von oben“ beugten. Unterweger wusste diese und andere Abhängigkeiten nämlich perfekt für sich auszunützen; sein Bewährungshelfer spricht von der „Unantastbarkeit“, die der Begnadigte später trotz mancher Verhaltensauffälligkeit für sich durchsetzte.

Jack Unterweger wurde zur österreichischen Sparversion des Poète maudit. Was hätte er auch mehr leisten können, als ein beachtliches Buch über sein Verbrecherlebenzu schreiben, Kindergeschichten für den ORF zu verfassen oder als erste Theateraufführung seines Lebens in Handschellen die eigene Uraufführung zu besuchen? Auch wenn ihm die schreiberische Potenz eines Jean Genet fehlte, waren „Manuskripte-Herausgeber“ Alfred Kolleritsch, Peter Huemer, Günther Nenning, Elfriede Jelinek fasziniert von der intellektuellen Energie, mit der Unterweger im Zuchthaus zu schreiben begann.

Eine Faszination, die freilich in eine Tragödie umschlug, wie sie bereits Robert Musil im „Mann ohne Eigenschaften“ mit dem Frauenmörder Moosbrugger und der tragisch endenden Befreiungsaktion durch Clarissa literarisch vorweggenommen hatte. Fragen könnten sich Unterwegers Literaturfreunde immerhin, warum sie nicht aufhörten, seine späteren Texte als schlechte Literatur zu lesen, statt als Krankheitszeugnisse eines Gefährdeten (beziehungsweise einer allgemeinen Gefährdung).

Dabei hatte Unterweger mit der Untertitelung seines Bandes „Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus“ als „autobiografischen Roman“ prophetisch künftige Genres wie die Dokusoap vorweggenommen. Und später, indem er Reportagen über Prostituiertenmorde schrieb, die er selber beging, einen ermittelnden Polizeichef interviewte und in den Medien auftrat, die Grenzen zwischen literarischer Fiktion und tödlicher Wahrheit weiter aufgelöst. Noch John Leake praktiziert mit seinem Buchtitel „Der Mann aus dem Fegefeuer“ diese gelegentliche Vermischung.

Bitter ist, dass viele der mit der Affäre
Unterweger Befassten nolens volens auch von ihr profitiert haben: Für den Ermittler Ernst Geiger bedeutete der Prozess einen Karrieresprung, für den Autor John Leake ist er das Thema eines beklemmenden wie faszinierenden Buches und für Elisabeth Scharang vielleicht für einen neuen Unterwegerfilm – vom Boulevard ganz zu schweigen. Selbst der Schreiber dieser Zeilen hat seinerzeit durch seine Verfilmung von Unterwegers „Fegefeuer“ profitiert. Bloß Unterwegers weibliche Opfer, mindestens zehn an der Zahl, haben verloren. Und zwar alles. ■


John Leakes Buch wird am 9. September um 19 Uhr am Wiener Landesgericht im Großen Schwurgerichtssaal, Frankhplatz 1, vorgestellt. Anmeldung unter 02742/802-1615.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2008)

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