Mit allen Mitteln

August 1914, Nordserbien: Frauen, Kinder, ältere Männer werden zu Tode geprügelt, erstochen, verstümmelt, lebend verbrannt. Planmäßig und auf höheren Befehl hin. Der Krieg der k. u. k. Truppen gegen die Zivilbevölkerung: Nachforschungen im Unbekannten.

November 2002. Es ist kalt in Sabac. Ein eisiger Wind pfeift durch die leeren Straßen, die Cafés haben ihre Tische auf der Straße längst weggeräumt. Nur ein paar wenige Passanten hasten vorbei. Sabac ist eine kleine nordserbische Provinzstadt. Die Häuser im Zentrum sind nicht höher als zwei- und dreistöckig. Zum Stadtrand hin verlieren sich die einstöckigen Gebäudezeilen im Nebel und in der flachen Landschaft. Bis hinunter zur Save ist es nicht weit. 60 Kilometer flussabwärts liegt Belgrad. Folgt man dem Fluss in die andere Richtung, kommt man nach ebenso vielen Kilometern an das Dreiländereck Serbien, Bosnien und Kroatien. Am späten Vormittag bin ich im städtischen Museum mit Frau Svetlanka Milutinovic verabredet. Bereitwillig führt sie mich durch ihr Museum. Ob viele ausländische Besucher in die Stadt kommen, will ich wissen. Und ob diese sich für die Ereignisse des Ersten Weltkriegs interessieren. Sie lächelt. Nein, zu uns kommt selten jemand aus dem Ausland. Und sie setzt zurückhaltend hinzu: Sabac hat auch im Zweiten Weltkrieg sehr gelitten. Dann führt sie mich zu der Vitrine, in der die Ereignisse des Ersten Weltkriegs dargestellt werden.

Wieso Sabac? Ich war, als ich begann, mich mit Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg zu beschäftigen, eher beiläufig auf den Namen dieser Stadt gestoßen. Zwar wusste ich, dass in dieser Gegend im August 1914 die ersten Kämpfe jenes Krieges begannen, der vier Jahre dauern und als Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte. Aber dass in Sabac auch ein anderer Krieg begann, jener gegen die Zivilbevölkerung, das ahnte ich damals noch nicht. Auf dem Platz vor der Kirche, nicht weit vom Museum entfernt, hatten österreichisch-ungarische Offiziere und Soldaten Mitte August 1914 ein Blutbad angerichtet, bei dem wehrlose, vor allem ältere Männer und Frauen, aber auch Kinder ermordet wurden. Zahlreiche Massaker, Massenhinrichtungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen folgten in den umliegenden Ortschaften. In der ersten Kriegswoche wurden allein in Nordserbien mehrere tausend unschuldige Zivilisten getötet. Zehntausende weitere fielen den systematischen Verfolgungen in Bosnien, Galizien, der Bukowina, im russischen Polen und anderswo zum Opfer.

Warum wissen wir bis heute nichts von diesen Ereignissen? Warum erscheint uns noch heute, 90 Jahre nach Kriegsende, dieser Krieg als heldenhafter Krieg der Großväter? Weil die Täter geschwiegen haben. Weil die Angehörigen der Opfer nicht gehört wurden. Weil die wenigen Kriegsverbrecherprozesse nach 1918 als Farce endeten. Weil es die österreichischen Historiker (bis auf ein, zwei Ausnahmen) jahrzehntelang verabsäumt haben, die dunklen Seiten dieses Kriegs zu erforschen. Dabei gibt es gute Gründe, sich mit diesen Verbrechen zu beschäftigen. Immerhin waren die Männer, die damals, 1914, unschuldige Zivilisten ermordeten, unsere Groß- und Urgroßväter.

Sabac, August 1914. „Mein Krieg hat heute begonnen“, notierte der Oberbefehlshaber der k. u. k. Truppen am Balkan, General Oskar Potiorek, am 12. August 1914 in sein privates Tagebuch. An diesem Tag überschritten die österreichisch-ungarischen Truppen die Grenzflüsse Save und Drina und drangen in nordserbisches Gebiet ein. Das Städtchen Sabac eroberten sie noch am selben Tag. Der Tag darauf stand für Potiorek unter keinem guten Stern. Er wollte ein Streichholz anzünden, die ganze Streichholzschachtel fing Feuer, der General erlitt Brandwunden. Ein merkwürdiges Zeichen im historischen Rückblick: Am Tag, nachdem die ersten Schüsse des Ersten Weltkrieges fielen, verletzt sich der Oberbefehlshaber mit einem brennenden Zündholz. Es sollte seine einzige „Kriegsverletzung“ bleiben.

In Sabac wie in vielen anderen serbischen Orten begann, kaum waren die k. u. k. Truppen am 12. August 1914 in die Stadt einmarschiert, ein wilder Verwüstungszug. Zahlreiche Wohnungen wurden ausgeraubt und demoliert, die Schaufenster der Geschäfte zerstört, die Wände der Häuser mit Fäkalien beschmiert. Die Bewohner der Stadt, die noch nicht geflüchtet waren, wurden in der Kirche zusammengetrieben und tagelang festgehalten. Weitere Frauen und Kinder sperrten die Soldaten zunächst im Hotel Europa ein, später im Hotel Casino. Immer wieder wurden sie geschlagen und nach den Männern in den serbischen Einheiten befragt. Viele der Frauen, berichtet die 20-jährige Zorka Gaic, die selbst ins Hotel Europa gebracht worden war, wurden vergewaltigt.

Und schließlich kommt der 17.August 1914. Einen Tag vor dem Geburtstag des Kaisers werden rund 80 dieser Zivilisten auf den kleinen Platz vor der Kirche gebracht. Plötzlich geht es ganz schnell. Soldaten marschieren auf, zahlreiche Schüsse fallen. Johann von Wettstein, ein k. u. k. Offizier, der die Szene wenige Minuten später sieht, berichtet: „Im Garten der Kirche sah ich einen großen Haufen Leichen, ca. 80 Stück.“ Wie konnte es dazu kommen? Zwei Tage zuvor hatte Oskar Potiorek, der Oberkommandierende der Balkanstreitkräfte, für den Großraum Sabac einen neuen Kommandanten ernannt. Er hieß Kasimir Freiherr von Lütgendorf; der 51-jährige Feldmarschallleutnant war ein gnadenloser Hardliner. Er hatte die Aufgabe, den serbischen Widerstand mit allen Mitteln zu brechen. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Lütgendorf war es, der den Befehl für das Massaker gab.

Sabac ist ein Beispiel für viele. Massenhinrichtungen und Massaker gab es in den ersten Kriegstagen in zahlreichen nordserbischen Orten. In Lesnica, einer Stadt unweit von Sabac, wurden 109 Zivilisten erschossen, in Krupanj, einer 1300 Einwohner zählenden Ortschaft, wurden 20 Menschen am Ausgang des Ortes gehängt, in Jarebice waren es 25. In Sokol Planina wurden 24 Zivilisten getötet und 55 deportiert, in Kostajnik wurden 94 getötet oder deportiert, in Donja Ljuboviđa wurden mehr als 30 Menschen getötet, in Selanac 29. In Donji Dobri gab es unter den Zivilisten 16 Opfer, in Brezjak wurden 54 Personen getötet. Die Liste lässt sich fortsetzen. Fast die Hälfte der Opfer wurde zu Tode geprügelt, erschlagen, erstochen, verstümmelt oder lebend verbrannt. Häufig waren die Gewalttäter betrunken. Immer aber handelte es sich um Übergriffe, die nicht im Getümmel des Gefechts erfolgten, sondern die planmäßig und auf höheren Befehl hin erfolgten.

Wien, Juni 1920. „General Lütgendorf“, schreibt der Reporter der „Wiener Allgemeinen Zeitung“ am 4. Juni 1920, „ist eine echt militärische Erscheinung. Hager, scharf geschnittene Züge, blonder Schnurrbart. Auf die Frage des Vorsitzenden, ob er sich schuldig bekenne, entgegnete der Angeklagte mit Betonung: ,Nein, ich kann nur die volle Überzeugung aussprechen, dass ich so gehandelt habe, wie ich es nach dem Gesetze tun musste. Ich konnte und durfte nicht Barbareien der eigenen Truppen dulden, wo wir als Kulturvolk gegen die Serben im Kampfe standen.‘“ Eineinhalb Jahre nach Kriegsende stand der 57-jährige Lütgendorf, der als hochdekorierter Kommandant aus dem Krieg zurückgekommen war, als Angeklagter vor Gericht. Er wurde von zwei Seiten zur politischen Symbolfigur stilisiert. Für die politische Linke war er der Vertreter einer brutalen militärischen Gewaltherrschaft. Für die Rechte und große Teile der ehemaligen Offiziere hingegen war er ein Kriegsheld, der weder vor Gericht gestellt noch verurteilt werden durfte. Das Verfahren erregte großes Aufsehen, die Zeitungen berichteten täglich in großer Aufmachung über den Fall, auch Karl Kraus hat den Prozess aufmerksam verfolgt.

Spät am Abend des 4. Juni 1920 begann Dr. Zwiedinek, der Gerichtsvorsitzende, mit der Verlesung des Urteils. „Der Angeklagte Kasimir Lütgendorf ist schuldig des Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit nach § 371, Absatz 9 des Militärstrafgesetzbuches“: So leitete er sein Urteil ein. Freilich ging es im Verfahren nicht, wie man vielleicht hätte erwarten können, um das Massaker von Sabac, das am 17. August 1914 stattgefunden hatte, sondern um die Hinrichtung dreier k. u. k. Soldaten am Tag darauf. Die drei waren, in betrunkenem Zustand und mit ihren Gewehren herumschießend, verhaftet worden und auf Befehl Lütgendorfs ohne feldgerichtliches Verfahren am Platz vor der Kirche in Sabac erstochen worden (um, wie es heißt, keinen unnötigen Lärm zu erzeugen).

Lütgendorf, so setzte Dr. Zwiedinek sein Urteil fort, „wird unter Anrechnung von 37 Tagen Untersuchungshaft, zur Strafe des strengen Profosenarrests in der Dauer von sechs Monaten verurteilt“. Erstaunlich genug: Im Prozess gegen Lütgendorf wurden die Vorgänge in Sabac am 17. und 18. August 1914 in allen Details rekonstruiert. Aber das Massaker an den Zivilisten wurde weder erwähnt noch geahndet. 80 Serben fielen nicht weiter ins Gewicht. Längst hatten Vergessenwollen und historische Schlampigkeit eingesetzt. Sie sollten noch Jahrzehnte andauern.

Wien, September 2008. Ich habe nicht vor, heuer nach Sabac zu fahren. Sechs Jahre nach meinem ersten Besuch möchte ich aber Frau Svetlanka Milutinovic ein Paket schicken, ein Buch mit Fotografien. Einige wenige davon hatte sie mir damals, bei meinem ersten Besuch, gezeigt. Was sonst kann ich Frau Milutinovic nun, Jahre später, berichten? Weitere erschreckende Details sind zutage getreten. Oft sind es kleine Hintergrundinformationen zu dem, was auf den Fotos zu sehen ist. Die meisten Opfer haben immer noch keinen Namen. Einige wenige aber haben ein Gesicht bekommen. Ein fotografisches Gesicht. Und auch einige Täter kehren nun, neun Jahrzehnte nach dem Ende des Krieges, in den Fotos, noch einmal an den Ort ihres ersten kriegerischen Einsatzes zurück. Einer davon ist der Österreicher Kasimir Lütgendorf. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.09.2008)

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