Der unbekümmerte Held

Der Autor René Freund vor dem Deserteursdenkmal, das am Freitag auf dem Wiener Ballhausplatz eröffnet wurde.
Der Autor René Freund vor dem Deserteursdenkmal, das am Freitag auf dem Wiener Ballhausplatz eröffnet wurde.Die Presse
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Sein Vater desertierte mit 18 Jahren aus der Wehrmacht und sprach nie mehr darüber. Aus seinem Kriegstagebuch hat René Freund ein Buch gemacht.

Es klingt fast zu vergnügt, zu lapidar, zu nebenbei dahingeschrieben, um es richtig glauben zu können. „Hier und da fällt ein Schuss aus Häuserfenstern und man spürt deutlich das Brodeln des Vulkans. Endlich ist der Lkw hier und wir laden das Gepäck auf, kurz nachher sind ,Papa‘ und ich verschwunden und gehen auf Umwegen zur Rue de La Michodière.“

Diese Worte schrieb Gerhard Freund in sein Kriegstagebuch, der Eintrag ist datiert auf den 18.August 1944 – den Tag, an dem er in Paris desertierte, die Uniform der Wehrmacht ablegte und sich fortan in einer leer stehenden Wohnung versteckte. Sechs Tage später wurde er von den FFI, der Dachorganisation der französischen Widerstandsgruppen, festgenommen. Er gelangte als Kriegsgefangener in die Obhut der Amerikaner, wurde nach Nebraska gebracht. Seine Erlebnisse hielt er auf etwa zwölf Seiten fest: vergilbte Blätter, so lang wie DINA3, so schmal wie DINA4, dicht beschrieben mit einer Schreibmaschine ohne Umlaute. Das Papier ist heute teilweise so dünn, dass man hindurchsehen kann.

Wie sein Sohn René Freund zu den Blättern gekommen ist, weiß er nicht mehr, sie waren einfach irgendwann da. 25 Jahre lang spielte der Autor von Theaterstücken und Romanen mit dem Gedanken, das Tagebuch seines Vaters literarisch zu verwerten. „Es war wie eine sehr lange Schwangerschaft mit diesem Stoff“, sagt er.

Schließlich hat er es doch getan. „Mein Vater, der Deserteur“ ist seine persönliche Familiengeschichte: Auszüge aus dem Kriegstagebuch seines Vaters wechseln sich ab mit historischen Hintergründen und Reiseberichten von René Freund selbst, der mit seiner Frau und seinen Kindern an die Schauplätze des Kriegs fuhr, um zu verstehen, was an jenen Orten geschah, die sein Vater in jugendlicher, fast naiver Sprache beschrieb.

Das Wort desertieren fällt im ganzen Tagebuch kein einziges Mal. Gerhard Freund „verschwand“ schlicht, gemeinsam mit einem älteren Kameraden, den er Papa nennt. Auch später habe er nie über seine Desertion gesprochen, erinnert sich sein Sohn. Gerhard Freund schrieb sich bereits 1945/46 als Schauspielstudent am Horak-Konservatorium für Musik, Tanz und dramatische Kunst ein. Er spielte am Stadttheater Baden, war am Aufbau des Rundfunks in Österreich beteiligt, wurde erster Fernsehdirektor des ORF, später dann Direktor der Wiener Stadthalle und Intendant der Wiener Festwochen, bevor er 1979 mit nur 53 Jahren an einem Aneurysma starb.

René Freund war damals erst zwölf Jahre alt. Es wäre für seinen Vater ein Leichtes gewesen, seine Desertion zum Thema zu machen, sagt Freund und zählt Kulturschaffende auf, die ebenfalls Deserteure waren: den Autor Alfred Andersch, den Schauspieler Oskar Werner, den Komponisten Friedrich Cerha. „Aber das war gesellschaftlich nicht akzeptiert. In der Wehrmacht zu sein, das wurde stilisiert als Ehrensache. Wer nicht dabei war, war ein Verräter.“


Vergnügt im Kugelgewitter. Wehrmachtsdeserteuren drohte, erschossen oder zur öffentlichen Abschreckung aufgehängt zu werden. 30.000 Deserteure wurden während der Nazi-Herrschaft zum Tod verurteilt, die Hälfte der Urteile wurde vollstreckt. „Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben“, war Hitlers Weisung. Freund ist sicher, dass seinem Vater die möglichen Konsequenzen seiner Fahnenflucht bewusst waren.

War es nun Mut oder Feigheit, was ihn veranlasst hat, die Front zu verlassen? „Mut und Feigheit waren unter Soldaten keine so große Kategorie, wie man sich heute vorstellen würde“, erklärt Freund. „Letztendlich war allen klar: Sie haben Angst und wollen einfach nur überleben. Was mein Vater gemacht hat, war im Nachhinein gesehen sicher mutig. Als Soldat hatte er eine Möglichkeit zu sterben: vom Feind erschossen zu werden. Als Deserteur gleich zwei, nämlich vom Feind erschossen zu werden oder von den eigenen Leuten aufgehängt.“

Trotzdem klingen die wenigen Zeilen, in denen er von seiner Desertion berichtet, als wäre sie kein wohlgefasster Entschluss, sondern ein spontaner Einfall gewesen – als wäre sie etwas, das man in einer freien Minute zwischen zwei Terminen erledigt. Auch an anderer Stelle scheint der Ton der Erzählung nicht zur Schwere der Ereignisse zu passen. Einen Tag, bevor Gerhard Freund die Wehrmachtsuniform ablegt, wird der Nordbahnhof, in dem seine Truppe ihr Lager aufgeschlagen hat, beschossen. „Wir sind voll des süßen Weines“, schreibt er, um die Maschinengewehrgarbe kümmern er und seine Kameraden sich nicht. In Kriegsgefangenschaft freut er sich wie ein Kind über jede noch so kleine Essensration. „Wir fühlen uns im Großen und Ganzen sehr wohl“, schreibt er über einen Tag in den Baracken des Kriegsgefangenenlagers.

Sein Sohn kann die Vergnügtheit verstehen. Bevor Gerhard Freund mit 18 Jahren in den Krieg gezogen ist, habe er sich nichts darunter vorstellen können. „Er war jung, naiv, er wollte unbedingt hinaus aus den beengten Verhältnissen zu Hause.“ Der Einsatz an der Front sei für viele junge Männer ein Abenteuer gewesen, deshalb hätten viele auch danach noch geschwärmt von ihrer Wehrzeit und die schlimmen Erinnerungen verdrängt. „Ich dachte: Wie konnten die Leute nach dem Krieg das alles mit einem solchen Hurra wieder aufbauen?“, fragt sich Freund. Und hat auch schon eine Antwort: „Allein schon, überlebt zu haben und gesund zu sein, war ein derartiger Quell der Lebensfreude und Energie, da hat es nicht mehr viel gebraucht.“


Erleichterung. Ist René Freund stolz auf seinen Vater, der beschlossen hat, an den Gräueln des Kriegs nicht mehr teilzunehmen? „Nein. Wenn ich stolz sein könnte, dann wirklich nur auf etwas, das ich selbst verantworten kann.“ Erleichtert ist er dennoch: Um zu prüfen, ob die Schilderungen seines Vaters wahr sind, hat er sich an Archive und Organisationen gewandt, die die Aktionen aller Wehrmachtseinheiten relativ lückenlos zurückverfolgen können. „Das hat mir schon Angst gemacht – dass du plötzlich draufkommst, wie mein hochgeschätzter Kollege Martin Pollack, dass dein Vater ein Kriegsverbrecher war. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich bin froh, dass es nicht so ist.“

Freund sei immer skeptisch gewesen, ob man die Vergangenheit literarisch bewältigen könne. Jetzt glaubt er daran: „Ich fühle mich jetzt freier dieser Geschichte gegenüber. Und ich habe auch wahnsinnig viel gelernt – nicht nur über meinen Vater, sondern über eine ganze Generation.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.10.2014)

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