Unterbrechen, aufspüren und vor allem stören

Eine Literaturkritikerin über die Aufgaben der Literaturkritik.

Kritik und Krise – beide Wörter haben ihren Ursprung im selben griechischen Wortstamm, krinein: scheiden, trennen, entscheiden. Und um sie beide dreht sich, in den unterschiedlichen Ausprägungen und Bezugsfeldern, vieles im großen Essay von Brigitte Schwens-Harrant: „Literaturkritik. Eine Suche“. Da ist zuerst einmal die Kritik an der im Literaturbetrieb allzeit präsent gehaltenen Krise. Wie ein geheimes Band hält das Jammern allerorts die beteiligten Akteure des Betriebs zusammen, wirkt sich auf das literarische Schreiben selbst als auch auf die öffentliche Präsenz von Literatur in den Massenmedien aus. Der Autorin geht es um die Analyse von Bedingungen, Bedingtheiten und Möglichkeiten der Literaturkritik. Dass sie vom großen Gejammere über die Krise nicht viel hält, wird in den ersten Kapiteln ihrer pointierten Abhandlung klar.

Die mitunter polemische Klarheit in der Argumentation bezieht Schwens-Harrant aus ihrer Verankerung in Theorie und Praxis: Selbst Literaturkritikerin, hat sie als Literaturressortleiterin der „Furche“ bestens Einblick in Marktmechanismen und -strategien, als Lehrende in Literaturseminaren kann sie auf leserbezogene Erfahrungen zurückgreifen. Doch genauso ist das Buch eine prägnante und aus der profunden Belesenheit der Philologin Schwens-Harrant erwachsende Analyse der literaturkritischen Debatten und Definitionsansätze.

Im Verlauf des Buches, das selbst wie eine große kritische Erzählung angelegt ist, entwirft die Autorin eine konstruktive, praktikable Alternative von Literaturkritik. Dabei stellt sie hohe Ansprüche an den Kritiker, der sich darauf einlässt: Er ist kein „Richter“ mehr, der in wortgewaltiger Selbstdarstellung das definitive Urteil über ein Werk fällt, er ist auch kein aufklärerischer Vermittler, der den Leser auf die richtige Spur zu führen hat. Vielmehr sollte er seine eigenen literarischen Maßstäbe und Kriterien immer mitreflektieren. Und, so Roland Barthes, weiterdenken und „in Krise bringen“, sprich Prägungen aufspüren, Normen und Hierarchisierungen unterbrechen, „stören“. Um so, und dies ist eines der innersten Anliegen des Buches, den öffentlichen Diskurs über Literatur zu stärken und Leserinnen und Lesern zusätzlich zu deren privatistischer Lektüre kritische Lesarten zur Verfügung zu stellen. Gespräch statt Urteil.

Dementsprechend wird denn auch das Schreiben von Literaturkritik zu einer kritischen „Argumentationserzählung“ (Reinhard Baumgart); der Literaturkritiker wird zu einem „Schreibenden, der im Schreiben das Schreiben sucht“ (Edward W. Said), im Wechselspiel von Sicheinlassen und Distanz, von Wissen und Zweifel. Keine definitiven Antworten also, sondern Frage und Suche. Kontroverse statt Einheitsbrei. Denkt man dies konsequent zu Ende, so hieße dies: Hierarchien verschwimmen, Marktstrategien laufen ins Leere, Vorurteile und gegenseitige Zuweisungen verlieren ihre Relevanz – Autoren, Kritiker und Leser als selbstverständlich unterschiedliche, aber gleichberechtigte Teilnehmer an der großen Textur Literatur. Eine Utopie?

Den mündigen Leser hat die Verfasserin im Auge. Er erwartet vom professionellen Leser nicht Orientierung und Hilfe, sondern eine Bereicherung im Nachdenken über Literatur. So führt die „Suche“ letztlich über viele Fragen zum Angebot einer Positionierung, die sich nicht (nur) als Ausdruck einer individuellen Haltung versteht, sondern auf den erörterten strukturellen Möglichkeiten basiert. Dass dabei kritisch und konstruktivkeine Gegensätze sind, vielmehr einander bedingen und in dieser Bedingtheit Freiräume eröffnen, die abseits der im Buch reflektierten marktbedingten Zwänge liegen: Darin liegt das „fantastisch“ Subversive von „Literaturkritik. Eine Suche“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2008)

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