Da hilft nur noch Beten

Börsenwölfe, die Schafe verschlingen – beim Dr. Marx ging es einst sehr zoologisch zu.

Die anglikanischen Kirchen, lese ich Freitagmorgen vor Dienstbeginn, haben eine Lösung für die veritablen Turbulenzen der jüngsten Tage gefunden. Sie bieten auf ihrer Website ein „Gebet für die gegenwärtige Finanzlage“ an. Der Zuspruch sei zuletzt um 71 Prozent gestiegen, melden die protestantischen Quellen aus London. So viel Wachstum ist heute sonst nirgends.

Ich sitze voller Bewunderung für dieses angelsächsische Arbeitsethos leger auf meinem Bankerl auf der Innenhofterrasse des Feuilletons, will die sparsamen Sonnenstrahlen dieses an sich düsteren Oktober genießen und tunke ein Kipferl in den Automatenkaffee – da fällt es mir vor Schreck beinahe aus der Hand, als ich die Illustration auf der Titelseite des „Economist“ betrachte. Die Erde im freien Fall, südlich des Äquators glüht sie bereits, „Saving the system“ steht tapfer darüber. „Apocalypse now“, denke ich, lese aufmerksam von Seite 13 bis 122, studiere steile Grafiken, Syntax und Metaphern. „Mein Gott!“, entfährt es mir, selbst diese selbstbewussten Liberalen, die mir beim Spekulieren auf finnisches Holz, sibirisches Buntmetall und Teppiche aus Belutschistan immer aufmunternd zur Seite gestanden sind, haben zwischen den Zeilen zu beten begonnen!! Und die Wiener Börse bleibt zu, während das Riesentor lange zuvor schon offen stand!!! Jetzt fürchte ich mich.

Leute nämlich, die Zinsen nehmen oder gar den unzüchtigen Golden Handshake praktizieren, finden bei den großen Weltreligionen, wie jeder Katechet weiß, keine Gnade. Das Transzendente ist für solch weltliche Sorgen ganz einfach die falsche Beschwerdestelle. Trost bei Liquiditätsengpässen muss man in materialistischen Büchern suchen. Ich nehme also meine blassblaue Volksausgabe von „Das Kapital“ zur Hand, mit dem Vorwort Benedikt Kautskys aus dem noch glücklichen Sommer des interessanten Jahres 1929, und beginne zu studieren, was ich 1977 als argloser Student mit Bleistift unterstrichen habe. (Damals musste man diese Sachen lesen, es gab noch keinen Film zum Buch „Der Produktionsprozess“ und nicht einmal das Lehrstück „Der Umschlag des variablen Kapitals“.)

Was also sagt der Philosoph, der seit 1883 im geschäftigen London in Frieden ruht, über die Hochfinanz? „Reine Glücksritter“, habe ich rot markiert, das Börsenspiel sei eines, „wo die kleinen Fische von den Haifischen und die Schafe von den Börsenwölfen verschlungen werden“. Das ist mir doch zu zoologisch, zu menschlich. Ich blättere also zu einst unberührten Seiten, die in der gegenwärtigen Krise selbst den kühlen „Economist“ demütig machen könnten. Allein die Arbeit als Vergegenständlichung des Gattungswesens soll Wert schaffend sein, empfiehlt Dr. Marx. Geld ist nicht alles, Hauptsache, wir haben Arbeit. Früher hieß das schlicht: „Ora et labora!“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.10.2008)

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