Wie schmeckt Wien?

Vom „Bratelbrater“, der vor allem Taglöhner, Mittellose und Gassenbuben zu seinen Kunden zählte, zur Trademark hiesiger Geschmackskultur: der Wiener Würstelstand – Nahversorger und Imageproduzent.

Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Wien eine Vielzahl an ambulanten Händlern und Gewerbetreibenden, die ihre Waren und Dienstleistungen auf den Straßen der Stadt darboten. Darunter auch zahlreiche „Bratelbrater“, deren Ruf „Warme Würstel!“ durch die Gassen hallte und hungrige Passanten anlockte.

Die Verkaufsstände waren auch olfaktorisch deutlich wahrnehmbar – wenngleich nicht immer angenehm, wie Zeitgenossen beteuerten: „Wenn man zur Morgen- oder Abendzeit durch eine der belebtern Straßen der Vorstädte wandert, so geschiecht es nicht selten, daß Einem plötzlich ein widerlicher, brenzlicher Geruch den Athem anhält.“ Den Wienern sei dies zwar vertraut, ein Fremder aber würde staunen, „wenn er eine offene, von Menschen umschwärmte Halle sieht, aus der dieser Dampf dringt, wenn er zwei große brodelnde Kessel erblickt, in denen Würste aller Gattungen und Arten sieden und schmoren“.

Das Angebot war vielfältig und umfasste unter anderem Frankfurter Würstel, Bratwürste, Leberwürste, Blunzen oder Augsburger. Die Kunden waren vor allem Taglöhner, Mittellose, Gassenbuben und kinderreiche Familien. Und wenn es auch bisweilen den Vorwurf gab, dass beim Bratelbrater billige Fleischabfälle verwertet würden, so war dies dem Hungrigen wohl selten ein Problem, „weil sein Geruch- und Geschmacksinn unter der Herrschaft des Magens und dieser wieder unter dem Scepter der Börse“ stand.

Als besonders beliebt erwiesen sich die Frankfurter Würstel, die 1805 von Johann Georg Lahner kreiert wurden. Lahner hatte das Fleischerhandwerk in Frankfurt am Main gelernt und sich 1798 in Wien niedergelassen, wo er nun seine neuartigen „Frankfurter“ – bestehend aus feinem Brät von Schweine- und Rindfleisch, gefüllt in Schafsaitlinge – anbot. Die „Flaumigkeit“ und „leichte Verdaubarkeit“ der Würstel überzeugten. Als Lahner 1845 starb, hatte sich seine Kreation in ganz Wien durchgesetzt, mit zahlreichen prominenten Fans wie Johann Nestroy, Therese Krones oder Franz Grillparzer. Später sollte noch der berühmteste von allen hinzukommen: Kaiser Franz Joseph, der sich täglich ein Paar Frankfurter als Gabelfrühstück in der Hofburg servieren ließ.

Auch im Ausland waren die Würstel schon bald begehrt. Hier verband man sie allerdings so sehr mit ihrem Entstehungsort, dass sich die Bezeichnung „Wiener“ für sie einbürgerte. Sie wurden Teil jenes Speisenrepertoires, das sich im 19. Jahrhundert als bürgerlich geprägte „Wiener Küche“ herausbildete und fix in die Identität der Stadt einschrieb. Neben den Süßspeisen nahmen hier traditionellerweise die Fleischgerichte einen hohen Stellenwert ein. Die wohl berühmtesten davon – allen voran Schnitzel und Würstel – trugen die Stadt direkt im Namen und waren so auf den imaginären Landkarten des Geschmacks eindeutig topografisch zuordenbar.

Würstel im Handkessel

Die Nachfrage nach Fleisch stieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich an (zwischen 1850 und 1910 verdoppelte sich der Fleischkonsum der Wiener Bevölkerung) – und von diesem Boom profitierten auch die Würstelanbieter. Nach wie vor zogen viele von ihnen als fliegende Händler, ausgestattet mit einem Handkessel, durch die Stadt, andere hatten sich bereits einen fahrbaren Wagen besorgt. Konzessionen dafür wurden entweder für Tag- oder für Nachtbetrieb vergeben, wobei die Nachtschicht an einem guten Standort wohl nicht selten die lukrativere gewesen sein dürfte.

Die im Zuge der Industrialisierung voranschreitende Trennung von Wohn- und Arbeitsstätten hatte völlig neue Zeitstrukturen entstehen lassen, innerhalb deren sich auch Ernährungs- und Essgewohnheiten wandelten. Dem modernen Großstadtmenschen blieb immer weniger Zeit, sich zu Hause zu verköstigen, gemeinsam mit der um den Mittagstisch versammelten Familie. Immer öfter war er unterwegs, war er gezwungen, Zwischenmahlzeiten auf seinen Wegen durch die Stadt einzunehmen.

Die Ausstattung des öffentlichen Stadtraumes passte sich dem an. Die „Wohnung des Kollektivs“ (Walter Benjamin) wurde adäquat möbliert, etwa mit „Kiosken“, die zum Umschlagplatz für schnell konsumierbare Güter avancierten: für Rauchwaren, Zeitungen, Imbisse. Für alle Passanten uneingeschränkt zugänglich, entstand hier eine neue Esskultur: Man aß im Stehen, meist mit den Fingern, ohne Bedacht auf strenge Etikette, konnte gleichzeitig seiner Schaulust frönen und das Getriebe der Großstadt beobachten, in Kontakt mit den anderen Gästen treten – oder auch nicht. Vor allem seine soziale Elastizität und Durchlässigkeit unterschied diesen Ort von anderen Konsumorten. Hier konnte der individualistisch sozialisierte Großstädter an das gerade beim Essen essentielle Gemeinschaftgefühl andocken, ohne sich diesem zu sehr verpflichtet zu fühlen.

Das Speisenangebot am Würstelstand war zur Jahrhundertwende um ein wesentliches Element erweitert worden: die Burenwurst. Der international aufsehenerregende Kampf der südafrikanischen Burenrepubliken gegen ihre Eroberung durch die Engländer löste auch in Wien heftige Diskussionen aus und fand vor allem bei den Deutschnationalen begeisterte Zustimmung. Man sammelte Geld zur Unterstützung der Buren, komponierte Burenmärsche und -lieder, Burenhüte, Burenheringe und Burenwürste kamen in Mode. Letztere wurden überaus beliebt und vom Wiener Volksmund sogleich „Burenheidl“ oder schlicht „Haße“ genannt. In der Fleischersprache handelt es sich genau genommen um Klobasse (slowakisch „Klobása“ bedeutet – ebenso wie „Bur“ – „Bauer“). Neben Burenwürsten, Frankfurtern, Blut-, Leber- und Bratwürsten bot man immer häufiger die etwas gröberen, aus Slowenien übernommenen Krainer an und die aus Ungarn stammenden, leicht geräucherten und mit Paprika gewürzten Debreziner, mancherorts auch den aus Süddeutschland übernommenen Leberkäse.

In den folgenden Jahrzehnten etablierte sich der Würstelstand als zuverlässiger Nahversorger. Sein Besuch wurde Teil des städtischen Alltags, bei Einheimischen wie bei Fremden und Touristen. Bei der Weltausstellung 1935 in Brüssel präsentierte Österreich dann auch nicht zufällig einen Würstelstand als gastronomisches Symbol seiner Gastlichkeit.

Der Würstelstand avancierte zu einem zentralen kulinarischen Gedächtnisort, gleich neben Wirtshaus, Kaffeehaus und Heurigem. Am Würstelstand konnte man sich geschmacklich und geruchlich „Heimat“ einverleiben, sich essend von „fremden“ Einflüssen abgrenzen, Sicherheit und Stabilität erfahren, gerade in den politisch turbulenten 1930er- und 1940er-Jahren. Immer deutlicher bildete sich eine eigene „Wiener Geschmackskultur“ heraus, die sich in ästhetischen Vorlieben genauso äußerte wie in explizit kulinarischen.

Als „Nachtrestaurant auf Rädern“ spielte der Würstelstand auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine wichtige Rolle – ehe er in die Krise schlitterte. Die unter verkehrstechnischen und touristischen Gesichtspunkten forcierte Umgestaltung der Stadt ließ ihn in den Augen mancher Stadtplaner als anachronistisch erscheinen. Mediale Rettungsaktionen wurden gestartet, die auf die Wichtigkeit dieser „Farbtupfen im Großstadtgrau“ hinwiesen und auch darauf, welch fixer Teil des Stadtimages diese „Wiener Institution“ mittlerweile geworden war. So führte der bestens besuchte Würstelstand vor der Stephanskirche ein Gästebuch, in dem Weltstars wie Orson Welles bekundeten, wie „wonderful“ die Burenwurst hier gewesen sei.

Bedrohung erwuchs dem Würstelstand auch durch die sich verbreitende US-amerikanische Imbisskultur. Doch während der „Hamburger“, ursprünglich ebenfalls in mobilen Ständen zum Verkauf angeboten, sich in fixen Lokalen etablierte (1977 eröffnete die erste McDonald's-Filiale am Schwarzenbergplatz), wurde der „Hot Dog“ kurzerhand in das Repertoire des Würstelstands aufgenommen. Dort hatte mittlerweile auch die Currywurst ihren Platz eingenommen, die Münchner Weißwurst, die Waldviertler und die in Oberösterreich erfundene und seit den 1970er-Jahren auch in Wien immer beliebter werdende Käsekrainer. Wie mittlerweile viele Konsumenten festgestellt hatten, besaßen die am Würstelstand gekochten Würste gegenüber den zu Hause zubereiteten einen entscheidenden Vorteil: Sie schmeckten einfach besser. Der Grund dafür liegt im Kochwasser der Kessel, das beim Würstelstand stets von Salzen, Fetten und Geschmacksstoffen anderer Würste gesättigt ist und so ein unnachahmliches Aroma bewirkt.

Kulinarisches Wahrzeichen

Dieser Geschmacksvorsprung und die Tatsache, dass Geschmäcker, sind sie einmal fix im kollektiven Bewusstsein verankert, nicht gerne aufgegeben werden, mögen ein Grund dafür gewesen sein, dass die rund 250 Würstelstände, die es Mitte der 1980er-Jahre in Wien gab, zu kulinarischen Wahrzeichen der Stadt erhoben wurden. Die Skurrilitäten und authentischen Geschichten, die man an diesem Ort erfahren konnte, betteten sich ein in jene mächtige, nostalgisch getönte Rückschau auf „Wien um 1900“, die Ende des 20. Jahrhunderts als eines der erfolgreichsten neueren Stadtimages aufgebaut worden war. Am Würstelstand, so wurde suggeriert, könne man gleichsam die Essenz des Wienerischen spüren und sich lustvoll an die Geschmackskultur der k. u. k. Zeit andocken.

Ernsthafte Konkurrenz erwuchs den Würstelständen schließlich durch das von den türkischen „Gastarbeitern“ seit den 1980er-Jahren verbreitete Kebab. Die im Zuge des EU-Beitritts erfolgte Liberalisierung der Gewerbeordnung beschleunigte seinen Einzug in die Kioske, wo es heute meist gemeinsam mit Dürüm, Börek, Falafel, Pizza, Hot Dog oder Bosna angeboten wird. Der allgemeine Trend zur internationalen Küche hat damit den Imbissstand erreicht, der sich auch optisch im neuen Design präsentiert. Bunt, die Vielzahl der Speisen werbewirksam hervorkehrend, ist er im Stadtbild weit auffälliger präsent als viele traditionelle Würstelstände, die sich dadurch nicht selten in ihrer Existenz bedroht fühlen.

Unter den derzeit rund 470 Imbissständen ist ein „Kulturkampf“ um die Geschmackspräsenz im öffentlichen Raum entbrannt. Im Zuge dessen verstärken viele Würstelstandler ihr Lokalkolorit und nennen sich fortan stolz „Wiener Würstelstand“. Ein Trend, der ganz den Interessen der städtischen Tourismuswerbung entspricht, die das „Kleine Sacher“, wie es mittlerweile etikettiert wird, weiterhin als international einzigartigen Lifestyle-Ort mit unverwechselbarem Flair promotet. Unterstützung kommt dabei auch von so manchen Politikern, für die der Würstelstand zur Geschmacksinstanz geworden ist, die zu ignorieren man sich heute kaum mehr leisten kann. ■

GESCHMACK: Die Ausstellung

Unter dem Titel „Geschmacksache“zeigt das Technische Museum Wien (Mariahilfer Straße 212) ab 22. Oktober in einer Sonderausstellung, „Was Essen zum Genuss macht“, so der Untertitel.

Zu sehen ist unter anderem, was beim Garen und Braten passiert, wie Milch zu Butter, Getreide zu Brot, Nudeln oder Bier wird.

Geöffnet Mo bis Fr 9 bis 18 Uhr, Sa, So und Feiertag 10 bis 18 Uhr.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2008)

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