„Der Niedergang von SPÖ und ÖVP ist unaufhaltsam“

INTERVIEW. Der Philosoph Rudolf Burger über den Stand der österreichischen Dinge.

Die Presse: Seit der Wahl haben die üblichen Unverdächtigen das Gefühl, dass die „Wendephilosophen“ widerlegt seien: Schüssel sei nicht der Drachentöter, die Entzauberung der Rechten habe nicht stattgefunden.
Rudolf Burger: Genau das Gegenteil ist der Fall. Wenn man das sogenannte rechte Lager zusammenzählt, schließt es nahtlos an die Entwicklung an, die 1999 unterbrochen wurde. Während der Regierungsbeteiligung brach sie ein, mit der Großen Koalition wurde sie wieder stark. Ich sehe das also genau umgekehrt.

Wer FPÖ und BZÖ klein sehen will, müsste also eine Regierungsbeteiligung dieser Parteien empfehlen.
Burger: Ja, finde ich auch. Aber ich würde die Sache eher, wie man in Wien sagt, von der Maschekseite her debattieren. Eine Neuauflage der ehemaligen Großen, jetzt nur mehr als Zentrumskoalition zu bezeichnenden Koalition würde, und da trau' ich mich meine wertgesicherte Pension darauf verwetten, bei der nächsten Wahl dafür sorgen, dass Strache plus Haiders Erben eine relative Mehrheit erzielen. Strache würde dann mit allem demokratischen Recht der Welt den Kanzleranspruch stellen. Auch die internationale Situation würde das unterstützen: Die wirtschaftlichen Turbulenzen im Gefolge der Finanzkrise münden mit einiger Sicherheit in eine weltpolitische Krise, es kommt zu einer Neukonfiguration der Machtverhältnisse und der Ausrichtungen – der wahrgenommene Niedergang der US-Hegemonie –, wohl auch zu einer Flucht zu neuen hegemonialen Mächten wie den Energieversorgern Iran und Russland. Das wird weltpolitische Turbulenzen hervorbringen, und das wiederum ruft bei den Menschen begründete Ängste, hervor. Diese Ängste werden das rechte Lager massiv stärken, insbesondere dann, wenn dieses in Opposition bleibt.

Zugleich erklären alle Experten, dass man gerade in der aufziehenden Krise ein Experiment mit unsicheren Partnern nicht riskieren dürfe. Ein auswegloses Szenario?
Burger: Im Grunde genommen ja. Die Wirklichkeit ist widersprüchlich, das hat man ja auch schon fast vergessen. Und sie ist insbesondere widersprüchlich, wenn man sie von einem Gesamtinteresse her betrachtet statt vom herrschenden parteipolitischen Partikularinteresse. Wenn es wirklich zu der Zentrumskoalition kommen sollte, dann wäre das, wenn man die Spektralanalyse der Wählerverteilung anschaut, eine Koalition alter Bürger und Kleinbürger gegen die Jungen und gegen die Arbeiterschaft. Ob das eine sehr zukunftsträchtige Konstellation ist, wage ich zu bezweifeln.

Woran liegt es, dass die Große Koalition die Ränder, vor allem den rechten Rand, starkmacht?
Burger: Ich glaube, dass es eine strukturelle Frage ist. Die Etikettierung des dritten Lagers als „rechts“ ist nicht falsch, aber sehr unvollständig. Rechts ist es aufgrund all der Subtexte und der Suberzählungen und des kulturellen Milieus, das diese Gruppierungen repräsentieren. Auf der anderen Seite hat es von der Rhetorik, aber auch von der Politik her einen massiv linkspopulistischen Anstrich. Die Etikettierung „rechts“ führt also in die Irre, weil man die linken Versprechungen, die damit verbunden werden, ausblendet. Ein zweiter Grund für den Erfolg dieses Lagers sind die sozialen Konflikte, die sich da draußen abspielen. Es werden nicht abstrakte Ängste geschürt, sondern reale Alltagserfahrungen angesprochen, die vom linksliberalen „juste milieu“ nur auf eine ideologisch moralisierende Weise wahrgenommen werden, aber nicht in der Ernsthaftigkeit existenzieller Erfahrungen. Die jungen Wähler fühlen sich von den rechten Parteien ernst genommen, etwa in ihrer Angst vor Türken. Man hat in diesem linksliberalen bürgerlichen Bildungsmilieu vergessen, wie hart Auseinandersetzungen sind, in den proletarischen und subproletarischen Schichten, aber auch dort, wo sich bürgerliche Lebensweisen mit proletarischen treffen, im öffentlichen Schulwesen. Da treffen kulturelle Traditionen aufeinander, die man nicht wegdefinieren und wegmoralisieren kann.
Aber was ist der strukturelle Grund für das regelmäßige Scheitern der Großen Koalition?
Burger: Ich denke, dass der Niedergang der beiden großen Parteien in Österreich ein säkularer Prozess ist. Der ist natürlich durch Veränderung von Personen und Programmen beeinflussbar, aber im großen Trend ist der Niedergang unaufhaltsam. Weil die ideologischen Kernbestände erodieren, auf beiden Seiten. Ich denke, dass der Prozess der ideologischen Erosion auf der Seite der SPÖ rascher vor sich gegangen und weitgehend abgeschlossen ist.

Derzeit erleben wir eher die ideologische Implosion der ÖVP.
Burger: Ja, das passiert jetzt. Bei der SPÖ ist es abgeschlossen. Dass in den 90er-Jahren von linken Gruppierungen in der Partei Visionen gefordert wurden, zeigte den Verlust genau dieser ideologischen Überzeugungen, der geschichtsphilosophischen Überzeugungen. Das zeigt sich bis in die Sprache hinein. Ein klassischer SPÖler, wie ich sie noch kannte, ältere Herren, die in den 30er-Jahren politisch sozialisiert wurden, hätte so ein Wort wie „Hacklerregelung“ niemals in den Mund genommen. Das ist ein so pejorativer Ausdruck gegenüber Arbeitern. Oder „Modernisierungsverlierer“, „bildungsferne Schichten“ – darin drückt sich das Bewusstsein des kleinbürgerlichen Kulturmilieus à la Heller und Pluhar aus. Aber das ist genau nicht die Schicht, an die sich einmal die Sozialdemokratie gewendet hat, und die ein Selbstbewusstsein hatte. In dem Moment, in dem sie von Visionen geredet haben, war klar: Das ist vorbei.
Ist das irreversibel?
Burger: Das halte ich für irreversibel, ja. Wobei ich denke, dass die SPÖ eine wesentlich politischere Partei war als die ÖVP. Die ÖVP ist ein Konglomerat von Bürgern, Kleinbürgern, Katholiken, Mittelstand, Bauern – was sich auch in der Struktur ausdrückt. Ich denke, dass die organisatorische Erosion bei der ÖVP rascher vor sich gegangen ist, die ideologische aber in der SPÖ. Diese beiden Erosionsprozesse laufen mit verschiedenen Halbwertzeiten. Aber beide sind unaufhaltsam. Es gibt keine sozialistische Perspektive mehr, und es gibt kein Bürgertum mehr im klassischen Wortsinn.

Ist damit die Mehrheit für das dritte Lager programmiert?
Burger: Es könnten sich neue Gruppierungen bilden, die irgendwelche Partikularinteressen vertreten.

Macht natürlich die Regierungsbildung auch nicht leichter.
Burger: Daher auch mein Plädoyer für ein Mehrheitswahlrecht. Ich weiß, dass das eine abstrakte Forderung ist, weil ich nicht sehe, wer von den politischen Kräften ein Interesse daran hätte, es durchzusetzen.

Unter diesen Bedingungen muss man vermutlich die Populismusdebatte unter einer neuen, positiveren Perspektive führen: Auch für „seriöse“ Parteien sind „Figuren“ die einzige Möglichkeit, noch was zu gewinnen.
Burger: Der Begriff des Populismus wird sehr pejorativ verwendet, als Denunziationsparole. Man kann ihn natürlich auch inhaltlich ausfüllen, aber man darf nicht vergessen, dass Populismus von der Wortwurzel her nichts anderes ist als „Demokratismus“. Es ist nur die latinisierte Form. Es drückt sich, realpolitisch gesprochen, in den Forderungen nach direkten demokratischen Bürgerbeteiligungen aus, und es ist durchaus interessant, dass das nicht die Rechte erfunden hat, sondern die grüne Linke: Volksbegehren und Bürgerbewegungen, das waren genuin demokratische Bewegungen, die als solche durchaus Züge des Populismus haben. Nicht zufällig sehen wir heute in Österreich eine Krise des Parlamentarismus. Die sozialpartnerschaftlichen Strukturen haben dazu geführt, dass das Parlament bei uns nicht viel mehr ist als der britische Ideenhimmel, in den die korporatistische sozialpartnerschaftliche Realverfassung des Landes projiziert wird. Wir haben hier Abstimmungsblöcke, wo die Entscheidungen schon lange vorher in vorgelagerten Gremien gefallen sind. Wo das Machtspiel schon in den Kammern, in den indirekten Gewalten vorentschieden wird.

Das intellektuelle Milieu beteiligt sich im Vergleich zu 2000 praktisch nicht an der politischen Debatte.
Burger: Ich habe zunehmend Schwierigkeiten mit dem, was man unter intellektuellem Milieu bei uns versteht. Mich ärgert schon diese Monopolisierung des normativen Kulturbegriffs auf bestimmte Schichten des Milieus. Des linksliberalen, sozialdemokratisch-grünen Schichtmilieus. Das war nie wirklich politisch, und ich habe es für einen der schwersten Fehler der SPÖ gehalten, dass sie so sehr auf dieses künstlerische Kunstmilieu gesetzt haben. Dass dieses kleinbürgerliche Schichtmilieu zur Meinungsführerschaft gelangen konnte, ist eines der Krisensymptome, illustriert die Krise der SPÖ, der Name Rudolf Scholten steht für mich nur als ein Schlagwort. Diese Leute haben ja auch vollkommen den Kontakt zur Härte der Wirklichkeit verloren. Das zeigt sich auch bei den jungen Wählern. In gewisser Weise war das zornige Schweigen der intellektuellen Klasse jetzt ja nur die Fortsetzung des zornigen Schreiens von 2000. Die Stimme hatte sich überschlagen. Es war damals schon nur mehr rein moralisierend und überhaupt nicht politisch analytisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2008)

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