Autoverfolgungsjagd: Zugriff bei günstiger Gelegenheit

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Motorisierter Täter flüchtet, Polizei nimmt die Verfolgung auf. Ab hier gehen Film und Realität getrennte Wege – meistens jedenfalls.

Sie sind das Salz in der oft dünnen Suppe des Actiongenres: Verfolgungsjagden mit dem Auto oder Motorrad, gerne garniert mit Hubschraubereinsatz, im Weg stehenden Gefahrenguttransportern und zur Seite hechtenden Passanten. Geschossen wird aus allen Kalibern und bei jedem Tempo, dem Einsatz der Pyrotechnik sind kaum Grenzen gesetzt. Eher schon den Möglichkeiten des Drehbuchschreibers: Der Held muss stets entkommen, weil er für den Rest des Films noch gebraucht wird. So sind schließlich die Reihen der verfolgenden Feinde gelichtet, den zurückbleibenden Polizeikräften bleiben traditionell nur Aufräumarbeiten.

Ernstfall „mobile Lage“

Die Realität, wie so oft, sieht etwas anders aus, weiß Gerhard Sieger zu berichten. Der Burgenländer, Jahrgang 1955, ist Chefinstruktor der Fahrausbildung bei der österreichischen Spezialeinheit Cobra. Bei ihm lernen die Elitepolizisten nicht nur Fluchtwende, konzertiertes Bremsen im Hochgeschwindigkeitskonvoi und formvollendetes Abdrängen des Gegners, sondern vor allem das angemessene taktische Vorgehen im Fall einer „mobilen Lage“. So nennt der Fachjargon die verzwickteste Art, sich einen Täter schnappen zu müssen: wenn der sich bewegt.

Erst jüngst hatte es die Cobra mit der Steigerungsform „mobile Geisellage“ zu tun: Bankräuber flüchtet mit dem Auto, nachdem er die Kassiererin ans Steuer gezwungen hat. Die Flucht verläuft von Vorarlberg durch halb Österreich, wobei Verkehrspolizei, Kripo und Cobra in einer „vorbildlich konzertierten Aktion“, so Sieger, die „Zugriffsobservation“ aufgenommen haben: das Fluchtfahrzeug wird verfolgt, ohne dass der Täter es merkt. Die Philosophie dahinter: Der Zugriff soll bei „günstiger Gelegenheit“ erfolgen, denn: „Irgendwann muss er stehen bleiben.“ Auf dem Parkplatz einer Raststätte ist es so weit: Der arglose Räuber, der beim Beinevertreten in Gedanken schon die Beute verteilt, wird von zivilen Cobra-Beamten überwältigt, die Geisel bleibt unversehrt.

Doch Siegers Truppe steigt nicht für jeden Autodieb oder Alkofahrer in die Dienstwagen. In aller Regel werden einfache Polizisten ohne spezielle Fahrausbildung – alle Jahre ein paar Stunden im Fahrtechnikzentrum müssen in Österreich schon reichen – mit flüchtenden Autos oder Motorrädern konfrontiert. In jenen heißen Momenten bleiben zentrale Fragen ungeklärt: Wer flüchtet – und warum? Oft reicht schon eine routineartige Verkehrskontrolle, die beim Lenker, der beim Punschtrinken nicht mitgezählt hat, eine Kurzschlussreaktion auslöst. Nur allzu schnell wird eine Spirale in Gang gesetzt: Der Gejagte glaubt zu entkommen, der Jäger ist sicher, ihn zu kriegen. Folge: „Irgendwann passiert was.“

Wobei der Ausbildner die Polizei im Vorteil sieht: Erfahrene Beamte können mit dem Stress besser umgehen. Zumeist ist es der Verfolgte, der den entscheidenden Fahrfehler begeht, weil er längst tief im roten Bereich seiner Möglichkeiten ist, nicht mehr klar denken kann.

Längst nimmt man nicht mehr jedes Mittel in Kauf, um den Verfolgten zu stoppen. Dass Flüchtige bei hohem Tempo gerammt werden, war allenfalls Praxis in den USA, dem Heimatland des Actionfilms. Normale Streifenwagen, berichtet Sieger, der viele Fälle studiert und analysiert hat, waren mit Rammvorrichtungen ausgestattet, Cops zu jedem Risiko bereit.

Der entfachte Jagdtrieb


Der gerammte Fluchtwagen, der schlingert, über dem Mittelstreifen aufsteigt und schließlich im dreispurigen Gegenverkehr einschlägt, ist ein Klassiker des Polizeivideos.

„Keine Verhältnismäßigkeit“, konstatiert der Experte, der auch die Ursache für derlei Eskalationen kennt: der „Jagdtrieb“ des Verfolgenden, wie er sich schon bei Simulationen und Trainingsfahrten problemlos entfachen lasse. Doch ein „taktisches Konzept“ wie das Rammen eines Fahrzeugs überlasse man besser geschulten Fachkräften wie jenen von der Cobra, die es auch nur im äußersten Notfall anwenden.
Hilfreicher sei da die Aufklärung aus der Luft oder die ganz normale Fahndungsmaschinerie. Zumal ein Verfolger, der hohe Risken eingeht, selbst zur Gefahr werden kann: Im Tunnelblick des Gefechts werden gefährdete Passanten leicht übersehen. Erst letzte Woche endete in England eine wilde Verfolgungsjagd durch die Stadt mit zwei Toten – sie gingen auf das Konto des Polizeiautos.

Schüsse auf ein flüchtendes Auto hält Sieger für nicht vertretbar. Selbst Kunstschützen können nicht verlässlich treffen, die Pistole sei dafür ungeeignet. Projektile, die eigentlich den Reifen gewidmet sind, können auf der Fahrbahn abprallen und als „Geller“ durch die Bodenplatte dringen und den Fahrer töten oder schwer verletzen – derlei Fälle hat es in Österreich gegeben.

„Man muss sich fragen, welche Mittel in Anbetracht des Delikts überhaupt geboten sind“, so Sieger: „Sachwerte lassen sich ersetzen, ein Menschenleben nicht.“

Mit dieser Strategie sieht er Österreich auf einem guten Weg, auch in den USA habe das Umdenken längst begonnen. Die filmreifen Realstunts sind seltener geworden. Schade nur für manche TV-Sender: Die haben sich mit eigenen Helikopterflotten auf quotenträchtige Verfolgungsjagden spezialisiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.11.2008)

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