Wie ahnungslos muss man sein, um auf Pyramidenspiele reinzufallen?
Acht von zehn Albanern waren 1945 Analphabeten. In den unwegsamen Bergschluchten herrschte seit Jahrhunderten der „Kanun“, ein unerbittlicher patriarchaler Sittenkodex, der jede Regelverletzung streng bestrafte. Dann kam Enver Hoxha, der das Land aus dem Feudalismus direkt in den Kommunismus katapultierte. Unter ihm lernten die Albaner lesen und schreiben – und Paranoia gleich dazu.
Hunderttausende kleine Bunker wurden überall im Land gebaut, weil Hoxha der ganzen Welt misstraute. „Das sozialistische Albanien ist für Feinde, Spione, Hippies und Hooligans geschlossen“, sagte er trotzig, „es ist keine Spielwiese für degenerierte Bourgeois und wird nicht von Dollars oder Rubeln verblendet.“ Männer mussten sich die Koteletten abrasieren, Frauen die Schminke abwischen, für Künstler war die Verwendung roter Farbe vorgeschrieben. Kein Huhn, keinen Hammer durfte man besitzen. Für die kleinste Regung eigenständigen Denkens wurde man ins Arbeitslager gesperrt.
Als das System 1991 kollabierte, brach die Welt über Albanien herein, Freiheit, Fernsehen, Werbung, Geld. Die Kühe und Schafe, die die Menschen in den Bunkern versteckt hatten, waren in Jahren der Dunkelheit blind geworden. Sie selbst mussten sich auch erst mal die Augen reiben.
Sie nahmen sich ein Stück Land und markierten es mit Draht – so, sagte man ihnen, funktioniert Privateigentum. Die blinden Kühe verkauften sie um Geld – so, sagte man ihnen, funktioniert Markt. Das Geld gaben sie schicken, reichen Männern, die versprachen, ihnen jeden Monat 20 Prozent Zinsen zu zahlen – so, sagten die ihnen, funktioniert Kapitalismus. Die Albaner trugen immer mehr Geld zu den schicken, reichen Männern und machten Schulden, um noch mehr Zinsen zu bekommen.
Dann brach das Pyramidenspiel zusammen, 1,2 Mrd. Dollar waren weg. Die schicken, reichen Männer hatten sie betrogen. Die Albaner waren ruiniert und verzweifelt, von ihrer Regierung fühlten sie sich im Stich gelassen: Die hätte sie schützen, warnen müssen! Sie stürmten Kasernen, holten sich Waffen, das Land versank im Chaos.
Der Rest der Welt hatte damals, 1997, ein bisschen Mitleid. Aber gönnerhafte Überheblichkeit war auch dabei. Denn sooo naiv darf man doch nicht sein! Das hätten die Albaner doch eigentlich wissen müssen, dass Kapitalismus sooo nicht funktioniert, sondern ganz anders!
Dann brach Bernard Madoffs Pyramidenspiel zusammen, 50 Mrd. Dollar waren weg. Madoff war ein schicker, reicher Mann. Er warb um seine Kunden in Country Clubs und auf Golfplätzen, und wer Genaueres wissen wollte, dem erklärte er, seine Anlagestrategie sei „zu kompliziert zu erklären“. Man hätte eigentlich gemeint, die Geschädigten, unter ihnen Hedgefondsmanager in New York und Privatbankiers am Genfer See, hätten den Albanern etwas voraus.
Buchtipp: Dardan Gashi, Ingrid Steiner: Albanien. Archaisch, orientalisch, europäisch. Verlag Promedia, 1997.
Sibylle Hamann ist Journalistin in Wien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2008)