Erika Weinzierl: Die Geschichtslehrerin der Nation

Zeithistorikerin Erika Weinzierl 89-jährig in Wien gestorben
Zeithistorikerin Erika Weinzierl 89-jährig in Wien gestorben APA
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Nachruf. Erika Weinzierl, die unerschrockene und unbeugsame Historikerin, die Österreich mit seiner jüngeren Vergangenheit konfrontierte, ist im Alter von 89 Jahren gestorben.

Einer ihrer letzten großen öffentlichen Auftritte war im März 2008 auf dem Heldenplatz, Österreich erinnerte sich siebzig Jahre nach dem Anschluss an die Opfer des Nazi-Regimes. Tausende Jugendliche hörten ihr zu, sie versuchte, ihnen anhand von Einzelschicksalen die Verbrechen der Diktatur anschaulich zu machen. Es wurde sehr still, als sie sagte: „Ich glaube, dass mehr Österreicher gewusst haben, was mit den jüdischen Freunden geschehen ist.“

Erika Weinzierl war nie eine Historikerin, die in ihrer Forschungsarbeit aufging und nur im Hörsaal anzutreffen war. Sie wurde durch ihre öffentlichen Auftritte bekannt, ihre große dunkle Brille und die langen schwarzen, ein wenig wirren Haare waren ihre Erkennungsmerkmale. Immer wieder äußerte sie sich zu aktuellen politischen Themen, schon als es in Österreich nicht opportun war, auf der Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit zu bestehen. Seit den 60er-Jahren hat sie sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus beschäftigt. Ihr Buch „Zu wenig Gerechte. Österreicher und die Judenverfolgung 1938 bis 1945“ erschien 1969 und war vierzig Jahre lang auf dem Buchmarkt. Ihre Berufung als Nachfolgerin von Ludwig Jedlicka auf den Zeitgeschichte-Lehrstuhl der Universität Wien 1978 in der Ära der resoluten Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg hatte großes Aufsehen erregt: Es wurde wohl zu Recht auch als feministisches Statement Firnbergs verstanden.

Rütteln an Tabus und Lebenslügen

Als wir Studenten in ihre Vorlesungen im berstend vollen Audimax der Wiener Uni drängten, waren die Jahre, da Zeitgeschichte als „besserer Journalismus“ belächelt wurde, endgültig vorbei. Zeitgeschichte sei für sie immer Herausforderung gewesen – so Weinzierl. Das Thema ihrer Habilitation – die österreichischen Konkordate – ließ sie ein Leben lang nicht mehr los. Auch hier rüttelte sie an Tabus: In ihren Arbeiten über die katholische Kirche Österreichs und die NS-Zeit räumte sie auf mit der Ikone einer Kirche als Hort des Widerstandes. Gläubige Katholikin wurde sie im Krieg, als sie mit einer Gruppe von Studierenden um Prälat Karl Strobl und Otto Mauer in der Krypta der Wiener Peterskirche zusammentraf. „Mich hat das angesprochen, dass diese jungen Leute völlig frei vom Nationalsozialismus und gläubig waren.“

Aus dieser Gruppe ging später die katholische Hochschulgemeinde hervor, Otto Mauer regte die junge Historikerin an, sich kritisch mit den heißen Eisen Kirche und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen.
In Interviews hat sie sich als „Linkskatholikin“ bezeichnet, auch als „Links-ÖVPlerin“. 1995 trat sie aus der ÖVP aus, die sich abzeichnende Verbrüderung Wolfgang Schüssels mit der FPÖ Jörg Haiders ging ihr gegen den Strich. Schon 1971 hatte sie erklärt: „Niemand kann garantieren, dass nicht schon im nächsten Wahlkampf wieder Gespenster der Vergangenheit beschworen werden.“ Das sollte sich als prophetisch herausstellen. Der Riss in der Gesellschaft, der sich seit der Waldheim-Affäre geöffnet hatte, wurde eines ihrer Themen. Also stritt sie im ORF mit Jörg Haider, äußerte ihre Besorgnis über den latenten Antisemitismus im Land, und verstand es stets, Wissenschaft und öffentliches Engagement zu vereinbaren: „Ich präsentiere die Ergebnisse meiner Forschung ohne Wertung – dann ziehe ich einen Strich darunter und sage: Und dazu meine ich das.“

Erika Weinzierl war die Geschichtslehrerin der Nation, die unerschrockene und unbeugsame Historikerin ist für alle, die sie damals im Audimax gehört haben, ein Vorbild geblieben, für exzellente und kritische Wissenschaft und für Zivilcourage im Leben.

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