Mit gigantischem Chor für Feuerwerks-
Plötzlich waren die Straßen voll wie nie. Kurz vor Mitternacht zum neuen Jahr waren die meisten erst gekommen. Mit Sektflaschen und Dosenbier, in gefütterten Mänteln und Stiefeln warteten sie – auf das Jahr der Kulturhauptstadt, auf Linz09. Auf der Nibelungenbrücke, die unter den Massen zitterte, auf der Donaulände, am Hauptplatz und in den Gassen der Altstadt waren es kurz vor Mitternacht schließlich 130.000 Menschen, die in der 190.000 Einwohner zählenden Stadt der Kälte trotzten und dem Countdown zum Jahreswechsel entgegenfieberten.
Nur ein paar Stunden zuvor war die Stimmung noch flau, der Andrang vergleichbar mit typischen Linzer Wochenendnächten, das angekündigte Verkehrschaos blieb aus, die Straßen waren leer. Nur auf dem Hauptplatz, wo gegen 22 Uhr Louie Austens sonore Stimme zu Elektro-Pop säuselte, war der Andrang schon dichter, man ahnte bereits deutlicher, dass dieser Abend zu etwas Besonderem für die Stadt werden könnte.
Die Stimmung war um diese Zeit am Alten Markt bereits ausgelassen, den Texta füllten, die favorisierten Local Heroes der Stahlstadt: Viele der jüngeren Kulturhauptstadt-Gäste dieses Abends waren wohl überhaupt nur wegen der oberösterreichischen Hiphop-Größen gekommen. Im Brucknerhaus war um diese Zeit noch die feierliche Eröffnungsgala im Gange. Ein Höhepunkt dieses Festprogramms: die „historische Fälschung“ des Kabaretttrios „maschek“, das wieder einmal „drüberredet“, diesmal synchronisiert über Filmsequenzen aus der Vor- und Nachkriegszeit, in der Linz als liebste Kulturhauptstadt Hitlers eine Rolle spielt und eine geteilte Stadt bleibt, bis sie durch ihre Rolle als Kulturhauptstadt endlich frei wird.
Krise? Kein Thema.
Statt langer Ansprachen mixte Schauspielchef Airan Berg die Politikerbeiträge später zu einem erfrischenden, von Burgschauspielerin Elisabeth Orth verlesenen „Cocktail“. Nur einer durfte leibhaftig ans Rednerpult: Bundespräsident Heinz Fischer sagte, Linz habe hart gearbeitet, um aus dem Stahlzentrum auch ein Kulturzentrum zu machen, einen Ort, an dem es sich lohne, Station zu machen. Fischer brachte in die Feierlaune auch die nachdenkliche, staatstragende Nuance: 2009 werde „ein herausforderndes, ein schwieriges Jahr“.
Sonst aber war die Krise an diesem Abend kein Thema. Grund zu übermäßiger Sorge gibt es für die Betreiber ohnehin nicht: Das Linz09-Schiff gilt mit seinem vor dem Crash gesicherten Budget von gut 60 Millionen Euro als unsinkbarer Supertanker – ganz im Gegensatz zu Vilnius, das seit Donnerstag ebenfalls Kulturhauptstadt Europas ist, aber zuletzt mit groben finanziellen Einschnitten auf unwägbare Untiefen zusteuerte.
In Linz dagegen schlossen Landes- und Kommunalpolitiker, die über den Einsatz der Mittel von Linz09 oder die Art der Bewerbung zuletzt auch nicht immer einig waren, einen Neujahrsfrieden, kein Wort der Kritik auch über abgesagte Projekte oder abgesprungene Kulturinstitutionen. Jetzt war offensichtlich die Zeit zu feiern, dass geschafft ist, was Linz trotz guter Lebensqualität, florierender Wirtschaft und ambitionierter Kulturprojekte bislang verwehrt blieb: im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, und sei es auch nur für kurze Zeit.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht rückten dann alle dicht zusammen, auf der Nibelungenbrücke, der Donaulände, dem Hauptplatz und seinen Gassen – Bundespräsident Fischer, Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker, die Hiphopper vom Alten Markt, die Masse von der Austen-Bühne, die, die wegen der Minusgrade erst ganz knapp vor dem Countdown gekommen waren, die Biertrinker, die Sektschlürfer.
Im Dialog mit dem Feuer
Hinter den Fenstern benachbarter Hochhäuser zeichneten sich die Umrisse von Zaungästen ab, die vermutlich die beste Aussicht auf den Höhepunkt der Kulturhauptstadt-Eröffnung hatten: die Raketensinfonie von Orlando Gough und Tom Ryser. Ein Chor aus mehreren hundert Sängern aus Linz und Umgebung, verstärkt durch 16 Solisten des professionellen Chors „The Shout“, und ein Feuerwerk traten 20 Minuten lang in einen Dialog, der zu Anfang von abgeschossenen Böllern torpediert wurde, aber schließlich zu jenem stimmungsvollen Orchester wurde, als das es gedacht war.
Als sich die Brücke und die Donaulände leerten, war nach Texta die zweite Oberösterreichergruppe am Start. Attwenger und ihre Mundart-Punk-Mischung brachten auch den Hauptplatz noch richtig zum Kochen. Sie bereiteten diejenigen, die noch nicht nach Hause wollten, auf Balkan-Dance und Elektro-Club in den Brückenkopfgebäuden vor. Gegen ein Uhr hatte dort die Nightline der Kulturhauptstadt Premiere. Und sonst? Besuchte man das Grand Hotel Cafe Zum rothen Krebsen mit seiner nostalgisch-morbiden Künstlerszene oder – ging nach Hause. Viele andere Lokale hatten zu oder boten das übliche Mittelmaß. Linz bleibt eben, zumindest in dieser Hinsicht, doch immer Linz.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.01.2009)