Vertragsbruch: Bratislava nimmt stillgelegten Atomreaktor wieder in Betrieb. Nun drohen EU-Sanktionen. Österreichische Parteien sind empört über das Vorgehen des Nachbarlandes.
Wien/Bratislava (tha, pö, red). Wogen der Empörung schlugen am Sonntag hoch, nachdem die Slowakei am Vorabend angekündigt hatte, das erst zu Jahresende 2008 abgeschaltete Atomkraftwerk Bohunice wieder in Betrieb zu nehmen – wegen ausbleibender Gaslieferungen aus Russland.
Damit bricht die Slowakei glatt ihren EU-Beitrittsvertrag: „Und zu einem Vertragsbruch kann die EU nicht Ja sagen“, meinte ein Sprecher von Energiekommissar Andris Piebalgs auf Anfrage der „Presse“. Die Slowakei hatte sich vor ihrem Beitritt 2004 verpflichtet, die Anlage zu schließen. Wird sie wieder gestartet, sind EU-Sanktionen möglich. Ob es sich um eine Verurteilung samt Geldstrafe vor dem Europäischen Gerichtshof handeln könnte, ließ Tarradellas offen. Erst wenn der Reaktor gestartet sei, was Tage dauern könne, entscheide die Kommission. Man verstehe freilich die „dramatische Situation“ in der Slowakei, wo viele Menschen bei niedrigsten Temperaturen frieren, weil Russland über die Ukraine seit Tagen kein Gas mehr geliefert hat.
Prag: Verständnis für Slowakei
Besonders harsch waren die Proteste aus Österreich, wo Regierung und Opposition ausnahmsweise einer Meinung waren und das Vorgehen der Slowakei einhellig verurteilten: „Eine Wiederinbetriebnahme des unsicheren Reaktors Bohunice kann nicht akzeptiert werden“, sagte Umweltminister Nikolaus Berlakovich (V).
Außenminister Spindelegger (V) klagte in der ORF-Pressestunde, er sei von der Slowakei nicht vorab informiert worden. Jede Vertragsverletzung der Slowakei gegenüber der EU sei zu ahnden. Das Hochfahren des „Hochrisikoreaktors“ sei „völlig unverantwortlich“, sagte Wiens Umweltstadträtin Ulli Sima. Das BZÖ forderte die Regierung auf, den slowakischen Botschafter ins Außenamt zu zitieren.
Tschechien, das seit Jahresbeginn die EU-Präsidentschaft führt, signalisierte am Sonntag Verständnis für die „Notfall“-Lösung in der Slowakei.
Das Land habe „Entschlossenheit gezeigt, ein Problem bewältigen zu wollen, das die EU nicht für die Slowakei lösen kann“, erklärte Premierminister Mirek Topolanek. Eine längerfristige Lösung müsse aber eine „europäische Dimension“ aufweisen.
Einen Alleingang überlegt derzeit aber auch der bulgarische Präsident Georgi Parvanov: Er meinte, sein Land solle das Atomkraftwerk von Kosloduj wieder in Betrieb nehmen, was ebenfalls dem EU-Beitrittsvertrag widerspräche. Litauen überlegt überhaupt, den Reaktor Ignalina länger in Betrieb zu halten, als mit den EU-Partnern vereinbart (bis 2010).
„Ich bin mir bewusst, dass wir den Beitrittsvertrag zur EU verletzen und übernehme dafür die volle Verantwortung“, hatte der slowakische Premier Robert Fico Samstagabend gesagt. Die Slowakei habe keine andere Wahl, weil sie knapp vor dem energetischen Kollaps stehe, ergänzte Wirtschaftsminister Lubomir Jahnatek: Laut Fico und Jahnatek sei der „kritische Punkt“ erreicht, ab dem jedes weitere Abwarten in ein völliges Blackout der slowakischen Energieversorgung führen würde.
Das Land brauche gerade die letzten für die Stromversorgung verfügbaren Gasreserven auf. Zeitgleich mit Beginn des Gaskonflikts sei man gezwungen gewesen, wegen der Schließung von Bohunice mehr Gas zur Stützung der Stromproduktion einzusetzen.
„Österreich nicht überschätzen“
Den Protest aus Österreich spielte Fico herunter: Man solle den Standpunkt Österreichs in dieser Frage nicht überschätzen.
Wer die Zeremonie um die Abschaltung des zweiten Bohunice-Reaktors zu Silvester mitverfolgte, weiß, dass die Slowakei – schon bevor die Gaskrise akut wurde – alles tat, um sich die Möglichkeit einer Wiederinbetriebnahme offen zu halten: „Mit der heutigen Abschaltung haben wir unsere Verpflichtung gegenüber der EU erfüllt“, erklärte Jahnatek damals. Von einer nachfolgenden Liquidation sei aber im englischen Originaltext des EU-Beitrittsvertrages – anders als in der ungenauen slowakischen Übersetzung nicht die Rede. Und falls es im Extremfall zu einem internationalen Rechtsstreit kommen sollte, sei die englische Fassung entscheidend. Angesichts der europaweit drohenden Energieknappheit werde auch die EU-Kommission irgendwann einer Wiederinbetriebnahme von Bohunicezustimmen, hoffte der Minister.
Technisch kann laut der AKW-Betreibergesellschaft JAVYS der zum Jahreswechsel abgeschaltete Atomreaktor innerhalb von sieben Tagen wieder ans Netz gehen. Organisatorische Vorbereitungen auf die Wiederinbetriebnahme seien schon seit Freitag im Gange.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.01.2009)