Der Prinz und sein Leisten

Morgens von halb zehn bis eins und dann wieder von drei bis halb acht am Abend sieht man sie in ihrer „bottega“ sitzen, in die Arbeit versunken: Gabriele Gmeiner – wie eine Vorarlbergerin in Venedig die Tradition der Schuhmacherei am Leben hält.

Mehr als 400 Brücken soll es in Venedig geben, mit ungezählten Treppen, dazu ein labyrinthisches Gewirr an Gassen und Durchgängen, unendlich viele sottoporteghi, rami und rughette.Und kein Bus in der Nähe, kein Auto, kein Fahrrad. Wer in Venedig lebt, nimmt seine Füße unter den Arm. Traghetti und vaporetti machen die Wege kürzer, doch das Gehen gehört zum Alltag wie die Mokassins, Sportschuhe und Stiefel, solide geschnitten, gut besohlt, fest geschnürt. Venedig hat nichts übrig für Stilettos und hochhackige Pumps. Wo der Boden schwankt, kommt auch der Gang ins Stocken. Gut, wer sich auf seinen festen Schritt verlassen kann.

Das weiß auch Gabriele Gmeiner. Sie ist Schuhmacherin, eine der wenigen, die es in Venedig noch gibt. Seit 2002 hat sie eine Werkstatt am Campiello del Sole im Herzen des Sestiere di San Polo. Ein kleiner Platz, nahe beim Fisch- und Gemüsemarkt von Rialto. Alte Gebäude wachsen nach oben, einfache Wohnhäuser neben Palazzi mit gotischen Fenster- und Türwölbungen. Der Putz bröckelt, die Farben der Wände sind verwaschen. Feuchtigkeit kriecht die Mauern hinauf.

Auf der Nordseite des Campiello ein ebenerdiges Geschäftslokal, Backstein, Fenster und Tür mit grünen Läden. In seinem Inneren zwei Arbeitsräume, eine niedrige Decke, getragen von alten Balken. Handwerkszeug, wohin man schaut: Hammer, Zangen und Messer in allen Größen, Raspeln, Spitzknochen und Täcksheber. Eine Werkbank, zwei Tische. In einer Ecke ein Lehnstuhl, der Platz für den Kunden.

Morgens von halb zehn bis eins und dann wieder von drei bis halb acht am Abend sieht man Gabriele Gmeiner in ihrer bottegasitzen, hoch konzentriert, in die Arbeit versunken. Ab und zu klopft jemand ans Fenster und winkt ihr zu, Nachbarn oder Bekannte. Man habe sie immer schon neugierig beäugt und dann herzlich aufgenommen, erzählt sie. Das hat ihr schon 1997 gefallen, als sie erstmals nach Venedig kam.

Gabriele Gemeiner ist Vorarlbergerin, 1972 bei Bregenz geboren. Mit 19 zieht sie nach London, in die Hochburg der Schuhmacher. Dort besucht sie das renommierte Cordwainers College, um danach in verschiedenen Ateliers zu praktizieren, bei John Lobb in London, dem britischen Hofausstatter, und auch bei Hermes in Paris. Ihre Lehr- und Wanderjahre, die Walz. Sie sieht sich um und landet schließlich in Venedig, in der Werkstatt des Rolando Segalin. Doch nach einem Jahr bricht sie neuerlich auf, diesmal nach Japan. Dort verwirklicht sie ein eigenwilliges künstlerisches Projekt. Sie reist durchs Land und lernt dabei die alten Handwerkstechniken kennen. Ein spannender Weg, zwischen Tradition und Moderne. Man habe sich mit Händen und Füßen verständigt, lacht sie, eine der schönsten Arten, mehr über Japan zu erfahren. Aus diesen Erfahrungen entstehen sechs Paar Schuhe, jedes mit einer Geschichte. Sie werden ausgestellt, zuerst in Tokio, später in Wien und Venedig.

Konkurs: ein schlechtes Omen?

„Beim ersten Mal war es eine Liebesbeziehung, doch beim zweiten Anlauf eine Vernunftehe“, so Gabriele Gmeiner, als sie 2002 nach Venedig zurückkehrt. Rolando Segalin hat ihr die Nachfolge in seiner Werkstatt angeboten, zusammen mit einem Partner. Doch das geht nicht gut, Gabriele hat ihren eigenen Kopf. Da spielt ihr das Schicksal ein Geschäftslokal am Campiello del Sole zu. Es ist fünf Jahre leer gestanden, zuletzt hatte hier ein Weinhändler seine Enoteca eingerichtet, glücklos. Er war in den Konkurs geschlittert. Ein schlechtes Omen? An sich ist die Lage gut. Die Rialto-Brücke ist nicht weit, in ein paar Minuten ist man bei den Vaporetto-Stationen von San Silvestro und dem Mercato Rialto. Die Trampelpfade laufen ganz in der Nähe vorbei, doch am Platz ist es ruhig, ruhig und vor allem auch: sonnig und hell. Das ist wichtig. Gabriele Gmeiner entschließt sich, das Lokal zu renovieren und hier ihre Werkstatt zu eröffnen. Scarpe su misura, Maßschuhe. Derby, Oxford, Budapester, made in Venice. Einzelstücke, nach den persönlichen Vorlieben ihrer Klientel gefertigt.

Eigentlich sei der Maßschuh, wie sie ihn definiere, nichts für eine Kleinstadt wie Venedig, meint Gabriele Gmeiner, das sei ein Schuh für die Metropolen, für Banker aus Paris, London oder Frankfurt. Und so sind es auch die ausländischen Kunden, von denen sie hier lebt, die finden es ziemlich chic, zu ihrer Schuhmacherin nach Venedig zu jetten. Deutsche, Franzosen, Spanier. Einer der treuesten Abnehmer kommt von noch viel weiter her. „Ich nenne ihn meinen Prinzen. Und er ist auch wirklich ein Prinz, in Bahrain, und was für mich noch wichtiger ist: Er liebt Schuhe“, erzählt Gabriele Gmeiner. „Der Prinz ist viel mehr als ein Kunde, er war von Anfang an dabei und agiert fast schon wie ein Mäzen, der mir alle Möglichkeiten offen lässt.“ Des Prinzen Leisten hängt in ihrer Werkstatt von der Decke, zusammen mit vielen anderen, fein beschriftet und nummeriert.

Schuhmacher hatten im alten Venedig eine große Zeit, doch das ist lange her. Das Handwerk von heute trifft in Italien auf einen harten Boden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Staat die Industrialisierung des Landes gefördert, zum Leidwesen der kleinen Betriebe. Die Kommune unterstützt Jungunternehmer, das hat auch Gabriele Gmeiner erfahren, die Stadt hat ihr bei der Einrichtung der bottega finanziell unter die Arme gegriffen. Aber jetzt, da es darum ginge, ihr bei der Ausbildung eines Lehrlings zu helfen, hält man die Taschen zu. „Die bieten mir immer wieder Geld für Maschinen an, aber das will ich nicht, ich will Hände.“

Der Produktionsprozess ist aufwendig: Zuerst wird Maß genommen und der hölzerne Leisten hergestellt, ein vereinfachtes Abbild des Fußes, das die Passform steuert. Dann wird ein Probeschuh angemessen, den die Kunden ein bis zwei Wochen lang tragen. „So sehe ich, wie sich der Fuß im Schuh verhält. Und entsprechend korrigiere ich den Leisten. Den Probeschuh, den ich schnell und aus einfachem Leder gefertigt habe, werfe ich dann weg.“ Um fortan nur mehr am Original zu arbeiten.

Natürlich hätten sie ihre Freunde und Nachbarn auch schon nach dem Preis ihrer Schuhe gefragt und dann verwundert den Kopf geschüttelt: 3000 Euro für das erste Paar, 1800 für das zweite und jedes weitere, weil da der Leisten schon existiert. Zu viel. Sie habe noch nie für Venezianer Schuhe angefertigt, erzählt Gabriele Gmeiner, das täte ihr leid. Aber unter ihren Preis kann sie nicht gehen.

Zwei bis drei Paar Schuhe fabriziert sie jeden Monat. Eigentlich sollten es vier Paar sein, meint sie, erst dann würde es sich wirklich rechnen. Ein halbes Jahr muss man auf seine Bestellung warten, das dann doch. Wer bei Gabriele Gmeiner ordert, lernt den langsamen Gang. Und Touristen, die Venedig im Laufschritt zu erobern suchen, verirren sich ohnehin nur selten zu ihr. Und wenn, dann schauen sie neugierig durchs Fenster und ziehen gleich weiter.

Mehr als 24.000 Hotelbetten soll es in Venedig geben, wird vermutet. Wirklich genau will es niemand wissen. Die früher strengen Bestimmungen für die Vermietung von Zimmern sind gefallen, seither wächst auch die Zahl der privaten Quartiere. Wer die Menschen zählt, die auf diese Weise tagtäglich über die Stadt hereinbrechen, erschrickt. Gut 14 Millionen Besucher, so schätzt man, überfluten die Straßen, Gassen und Plätze, viele von ihnen bleiben auch über Nacht. Dem gegenüber stehen die etwa 45.000 Venezianer, die im historischen Zentrum Venedigs wohnen.

Wie lebt es sich in der Gesellschaft konsumhungriger Touristen? Umgeben von Kameras, laut schreienden Fremdenführern, Gondolieri, die sich auf ihre Beute stürzen? Ruhigere Plätze muss man suchen, in Teilen Cannaregios, im äußersten Osten von Castello, in Santa Croce. Oder auf der Giudecca, jenseits des großen Kanals: eine Reihe schmaler Inseln, durch Brücken miteinander verbunden und im Venezianischen spina lunga genannt, langer Dorn.

Der Markusplatz, der Dogenpalast, die Tauben – weit weg. Im Sestiere di San Marco möchte ohnehin niemand leben, der den Rhythmus träger Tage gewohnt ist. Das Zentrum Venedigs ist vielen zu hektisch, auch zu teuer geworden. Der Alltag gleicht einem Hürdenlauf. Immer mehr Geschäfte verschwinden, der Bäcker von nebenan, der Laden mit der wunderbaren Auswahl an Nähseide, Zwirn und Knöpfen, der Schuster und die Friseurin. Alle weggezogen. Die internationalen Designer haben den Bezirk übernommen, die Glasgeschäfte und Maskenverkäufer. Konfektion, hier wie dort.

Die Wege des täglichen Lebens sind mühsam und weit, Lärm und Gedränge auf den Straßen unerträglich, das regelmäßig wiederkehrende Hochwasser lähmend. Immer mehr Venezianer verkaufen ihre Palazzi und Wohnungen und übersiedeln auf die Terraferma, nach Mestre oder Marghera. Von dort aus pendeln sie zu ihren Arbeitsstellen in der Gastronomie und Hotellerie. Immobilienagenten machen sensationelle Geschäfte. Touristen stürzen sich auf die frei gewordenen Paläste und Appartements und treiben damit die Preise nach oben.

Die Stadt der leeren Palazzi

Venedig ist überaltert, ein Großteil der residenti ist über 60. Am Abend wird es schnell dunkel. Bei Einbruch der Dämmerung schließen sich die Fensterläden, niemand lässt sich gern in die Salons und Zimmer sehen. Kaum Licht, das nach außen dringt. Weil man für sich bleibt – oder weil niemand da ist. Allein am Canal Grande funkeln die Luster, beleuchten die prächtigen Stuckdecken, Bibliotheken und Bilder und eröffnen den Blick in die Hallen luxuriöser Hotels. Doch die meisten der anderen Palazzi Venedigs stehen das ganze Jahr über leer.

Viele Venezianer seien vergrämt, hat Gabriele Gmeiner beobachtet. Sie reden schlecht über die Touristen, hauen sie übers Ohr und verspotten sie hinterrücks, obwohl sie wissen, dass sie ohne den Fremdenverkehr ein ganz anderes Leben führen müssten. Das Denken wird kleinmütig. Man fühlt sich als Opfer dieser Abhängigkeit und schafft es nicht, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken. Venedig sei eben sehr provinziell, bedauert Gabriele Gmeiner. „Die meisten verkaufen die Lüge. Masken und Glas aus China, Dinge, die sich in Venedig niemand selbst in die Wohnung stellen würde. Nichts wirklich Schönes.“ Die innere Zerrissenheit macht bitter.

Doch gleichzeitig sei auch der Zusammenhalt größer als anderswo, so Gabriele Gmeiner. Ohne Hilfe von außen hätte sie ihr Geschäft nicht aufbauen können. „Anfangs konnte ich kein Italienisch, aber das hat sich schnell verändert. Die Italiener reden ja gern und viel.“ Man komme schnell ins Gespräch, meint sie. Venedig sei eben immer noch eine mittelalterliche Stadt, mit kleinen Strukturen. Alles ist eng. Da läuft man sich immer wieder über den Weg. Und überhaupt: Der Lebensrhythmus entspricht ihr. In einer Stadt, in der man nicht mit dem Auto aneinander vorbeirasen kann, nimmt man sein Gegenüber viel intensiver wahr. Der Schritt verlangsamt sich, das Auge kommt endlich zur Ruhe. „Und das gefällt mir: ein bisschen aus der Zeit zu fallen.“ Aus der Zeit und aus dem Rahmen. Vieles ist anders, als es scheint. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2009)

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