Die Biologie des Bauens

Wie Charles Darwin die Baukunst beeinflusste: Hinweise auf eine Evolutionstheorie der Architektur.

Wer denkt an Architektur, wenn der Name Charles Darwin fällt? Darwins Jubiläumsjahr kann aber kaum ohne einen Blick in die faszinierende Verflechtung seiner Denkmodelle mit den Künsten vergehen. Der indirekte Einfluss von Darwins Werk auf die Theorie der Baukunst war immens. So exotisch diese Verbindung scheint, so prägend und bahnbrechend war sie seinerzeit, ja ohne Darwins Werk wäre die Baukunst des späten 19. und frühen 20.Jahrhunderts, wie wir sie kennen, kaum denkbar. Vor allem in Wien fand diese Gedankenhybridisierung aus Naturwissenschaft und Bautheorie ihre prominente Umsetzung.

Den Auftakt für einen Wandel, der in der Folge auch die Gedanken zur Architektur betraf, bildeten die neuen Forschungen der Biologie. Étienne Geoffroy Saint-Hilaire hatte bereits 1795 festgestellt, dass Species „nur Ausartungen eines und des nämlichen Typus“ seien. Georges Cuvier legte kurz darauf neue, vergleichende anatomische Einteilungen und Ordnungen vor. Diese neuen anatomisch-biologische Klassifikationen veränderten in einem entscheidenden Punkt jede bislang herrschende Systematik: Sie setzten die Bedeutung der Funktion des Organs an die erste Stelle. Die endgültige Zäsur brachte aber das Werk von Charles Darwin. Darwins Annahme sah vor, dass „Arten einer Veränderung unterliegen und dass die jetzigen Lebensformen durch wirkliche Zeugung aus anderen früher vorhandenen Formen hervorgegangen sind“. Die Entwicklungsgeschichte der Organismen wurde ab jetzt nicht mehr beschreibend, sondern erklärend begriffen.

Weit über den Kreis der Darwinisten hinaus bahnte sich die neue Art, zu denken und zu ordnen, ihren Weg in andere Bereiche. Auch die Stilentwicklung und Ästhetik in den Künsten wurden unter veränderten Vorzeichen beleuchtet. Neue Klassifikationen wurden auch hier aufgestellt. Der bedeutendste Vertreter der neuen Richtung war der Architekt Gottfried Semper. Semper legte seinen Gedanken zur Architektur die neue Systematik und Ordnung der Natur zugrunde.

Gottfried Semper schuf sowohl ein gebautes als auch ein theoretisch bahnbrechendes Werk. Dabei glich die Karriere des bedeutendsten Architekten des 19. Jahrhunderts insgesamt der Fahrt einer Hochschaubahn. Nachdem er in sehr jungen Jahren bereits europaweit großen Erfolg und einen Höhepunkt seiner Laufbahn als Kunsttheoretiker, Akademieprofessor und Hofarchitekt im sächsischen Dresden erreicht hatte, fiel er durch die politischen Umstände in Ungnade. Nach Ausbruch des Maiaufstandes 1849, auf dessen Seite er sich gestellt hatte, drohten ihm Verhaftung und Gefängnisaufenthalt, ein Schicksal, dem er sich nur durch rasche Flucht entziehen konnte.

Der gefallene Hofarchitekt gelangte über Paris nach London. In den folgenden harten und auftragsarmen Jahren legte er das Fundament zu seinem theoretischen Hauptwerk. Es kulminierte 1860 bis 1863 im mehrbändigen Werk „Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik“, eine Schrift, die zum einflussreichsten theoretischen Werk der Baukunst des 19.Jahrhunderts avancieren sollte. Gleichzeitig war „Der Stil“ auch das von Architekten am wenigsten gelesene, aber darüber noch später.

Gottfried Semper entwickelte seine Gedanken zur Architektur parallel zu den neuen Ordnungen der Natur. Seinem theoretischen Werk legte er ein evolutionsgeschichliches, funktionsmorphologisches Gerüst zugrunde. Damit schuf er einen vollkommen neuen Denkansatz der Entwicklung der Baukunst. Seine vergleichenden Systeme und seine Suche nach Urformen in der Architektur hatte er in enger Anlehnung an die neuen vergleichenden Anatomien erarbeitet. Semper erklärte, man müsse wie in der Naturwissenschaft auch die Entwicklung der Architektur, die Frage nach dem Ursprung und der Entwicklung der Baustile in ein ordnendes System fassen. Vereinfacht ausgedrückt: Er begründete eine Evolutionstheorie der Architektur.

Laut Semper hatte sich die Baukunst aus der textilen Kunst entwickelt. Den historischen Ursprung des Bauens sah er in einem strukturierenden Gerüst, das eine textile Umhüllung besaß. Die Beobachtung einer einfachen karibischen Hütte auf der Londoner Weltausstellung war für ihn eine Bestätigung dieser Urform der Architektur. Die Hütte bestand aus einem einfachen Gerüst, war mit Flechtwerk versehen und mit Stoffen umhüllt. Durch das Prinzip des „Stoffwechsels“, diesen Begriff hatte er von den Forschungen des holländischen Physiologen Jacob Moleschott entlehnt, hätten die ursprünglichsten Formen sich ihren Weg gebahnt, so argumentierte Semper. Aus der textilen Hülle wurde schließlich die steinerne Wand der Architektur. Die Ornamentik sei demnach nichts anderes als ein symbolisches, „versteinertes“ textiles Muster. Aus der einfachen Technik des Wandbereitens, dem Urprinzip des Bekleidens, entstand nach Semper in einer Metamorphose alles weitere, es rückte einfach in eine höhere Stufe, ein Urtypus wechselte in einen anderen Stoff.

Eine höchste kreative und gewagte Theorie, eine kühne Neubetrachtung der Entwicklung der Baukunst. Gottfried Semper hatte in einer Ideenhybridisation ein naturwissenschaftliches Denkmodell in die Architektur übertragen. „Der Stil“ und „Die vier Elemente der Baukunst“ von 1851 waren in jedem Atelier zu finden. Sempers Schriften waren Nachschlagwerk und Bibel der schaffenden Architekten.

Vor allem in Wien fiel Sempers Credo auf fruchtbaren Boden. Freilich handelte es sich reihenweise um produktive, kreative Missverständnisse. Denn wenige Architekten hatten den „Stil“ gelesen. Zu Recht. Tatsächlich ist die Hunderte Seiten umfassende Schrift zwar in ihrer grundlegenden Denkleistung faszinierend, aber in der Darstellung eher mühselig, mit Stoffmengen überfrachtet, abschnittsweise recht konfus. Trotzdem prägte Sempers biologistische Systematik der Baukunst das ausgehende Jahrhundert.

Die Kernaussage der Semperschen Theorie konnte in wenige knappe Sätze gefasst werden. Vor allem war dieser Kern höchst bildhaft vorstellbar, und als solcher wurde erauch rezipiert. Die Architekten verfuhren mit der Idee einer biologistischen Entwicklung des Bauens höchst frei undbildhaft inspiriert. Siebot dem breiten Feldder neuen konstruktivenMöglichkeiten viel Raum und verführte vor allem in der Wiener Rezeption zum reizvollen und eloquenten gestalterischen Spiel. Otto Wagner, Max Fabiani oder Josef Plečnik reizten den Umgang mit Hülle und Kern des Bauwerks bis zum Höhepunkt. Die ornamentierte, geschmückte Fassade wurde zum unverzichtbaren Ausdruck jedes Bauwerks.

Materialien und Verzierungen wurden als „Stoffe“, als verfeinerte Hülle metaphorisch beschworen. Der Kern des Bauwerks wurde theatralisch bekleidet. Bei Otto Wagners Prachtbauten an der Wienzeile war es die exzessive Verwendung von Majolika, bei Max Fabianis Geschäftsbau für Portois & Fix im dritten Wiener Bezirk waren es kühle, farbige Fliesen, mit denen er die Fassade gestaltete.

Die Fassadenkunst des 19.Jahrhunderts begründete mit der Geschichte der Entwicklung des Wandbereitens ihre sinnlich-spielerische Ausdrucksform. In seiner ausgeronnenen Variante erschien das Ornament später als massenproduzierter, aus dem Musterkatalog entnommener Zement- oder Gipsguss, der auf den Fassaden gründerzeitlicher Zinspaläste angebracht wurde. Zwischen diesem oberflächlichen Verfahren und jenen schmückenden Ideen lagen Welten. Denn der Ursprung des Gestaltungsgedankens war durchdacht. Kunstgewerbe, Ornamentik, Geschichtsbezug, evolutionistische Ordnungen waren wesentliche Grundlagen der historistischen Baukunst. Die zugrunde liegende Systematik war der neuen Wissenschaft der Natur entnommen.

Gottfried Semper selbst war zwischenzeitlich längst wieder zu Ruhm gelangt. Für die großen Ringstraßenplanungen war er 1871 nach Wien gezogen. In der zwangsbeglückenden, problematischen Verbindung mit Karl Hasenauer, der ihm nicht ansatzweise das Wasser reichen konnte, waren Burgtheater und Museen entstanden. Sempers Kaiserforum, die große imperiale Geste, wurde nie vollendet. Dem Lauf der Geschichte verdanken wir die asymmetrische, halbseitige Stadtsituation.

An die Habsburgermetropole sollte sich Semper ausschließlich schlechte Erinnerungen, einen „Blick zurück im Zorn“ bewahren. 1876 hatte er hier völlig entnervt das Handtuch geworfen. In seinen Briefen schrieb er von der rutschigen Spiegelglätte und zerstörerischen Intriganz des Wiener Parketts, das ihm schwer zu schaffen machte. Der letzte Band des „Stils“ sollte nie erscheinen.

Sempers evolutionistische Theorie wies scheinbar janusköpfig zurück und vorwärts zugleich. Sein System versöhnte vordergründig Historismus und Moderne, besaß Potenzial zur stetigen evolutionären Weiterentwicklung des Bauens. In der Praxis sah es anders aus. Sempers Lehre war einer Architektur des Steines und der Fassade vorbehalten. Die neue Transparenz der Eisenkonstruktionen fand in seinen Augen keine Gnade. Die frühe Moderne bewegte sich jedoch von der Umhüllung weg und begann, die Außenmauer zu lösen, trennte das Band zur versteinerten Welt der Väter. Die großen kulturhistorischen Systeme und Klassifikationen, die Ratio der Geschichte war in ihren Augen obsolet geworden.

Die evolutionistischen Geschichtsmodelle hatten ihre Gültigkeit verloren. Semper wurde als Materialist gescholten. Auf das rationale Denken folgte im letzten Abschnitt des Jahrhunderts eine Umkehr. Die verdrängten Mächte loderten empor. Auf die positivistische Naturlehre folgte nun, allgemein gesprochen, eine neue Irrationalität. Seele, Stimmung und Gefühl begannen sich wieder als geistig-künstlerische Instanzen zu behaupten.

Die Architektur reagierte seismografisch auf die neuen Werte. Nicht die objektive, sondern die subjektive, nicht die logische, die allgemeine Auffassung der Dinge, sondern ihre gefühlsmäßige, besondere, persönliche wurde zum neuen Leitspruch ausgerufen.

Ein „warmes Fühlen in den kalten Mauern“, so Josef Maria Olbrich über sein Haus der Wiener Secession, entließ endgültig die Ratio der geschichtsbewussten Zeit. Die Grundlagen eines anderen Bauens begannen sich zu formen. Seelenwerte galten als deren Organisatoren, das künstlerische Schaffen aus den Tiefen des Ichs wurde zu einem neuen Leitmotiv der Zeit. ■


Unser Bild ist dem Band „Analogien – Moderne Architektur und Tierwelt“ von Alejandro Bahamón und Patricia Pérez entnommen, der in der Deutschen Verlags-Anstalt, München, erschienen ist (Aus dem Spanischen von Laila G. Neubert-Mader.
192 S., brosch., € 30,80).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.02.2009)

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