Vranitzky: "Kohl sagte: 'Ich bitte dich, mach das'"

Franz Vranitzky
Franz Vranitzky(c) Teresa Zoetl
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1989 war Franz Vranitzky Kanzler: Wie er den Mauerfall erlebte, warum er zwei Wochen später die DDR besuchte, weshalb er seine SPÖ umbenannte, was er für Dissidenten tat und welchen Einfluss sein kommunistischer Vater auf ihn hatte.

Können Sie sich noch erinnern, wie Sie den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls, erlebt haben?

Franz Vranitzky: Wahrscheinlich so wie die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung auch: mit Information, Information, Information.

Das heißt, die österreichische Regierungsspitze hatte keine gesonderten Informationen?

Nein, es gab keine von Regierung zu Regierung eilende Nachrichtenmechanik. Wir waren auf unsere diplomatischen Dienste angewiesen, und sonst auf die Medien wie alle anderen Menschen. Es gibt natürlich Leute, die heute sagen, eigentlich hätte man es vorher schon wissen müssen. Aber ich gehöre nicht zu diesen Leuten. Bestimmte Erscheinungen und Anzeichen hat es natürlich schon gegeben. So hat mir etwa der damalige ungarische Regierungschef, Miklós Németh, schon etliche Wochen vorher gesagt: Es werde so nicht mehr weitergehen. Also mit dieser strengen KP-Ordnung in ganz Osteuropa. Und man wolle das auch nicht mehr, diese Moskau-Abhängigkeit. Er ist dann auch einmal zu mir gekommen und hat mich gebeten, ob ich mit ihm eine Autofahrt ins östliche Niederösterreich und ins Burgenland mache. Er möchte sich die Dörfer anschauen. Und ich habe ihn gefragt, was ihn denn so an den Dörfern interessiere. Und er hat gesagt: das Dorferneuerungsprogramm, das es damals gab. Dies interessiere ihn sehr, denn sie müssten diesbezüglich in Ungarn auch bald etwas machen.

Sie waren dann zwei Wochen nach dem Mauerfall, am 24. November 1989, zu Gast beim DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow in Berlin und haben dort eine Vereinbarung über die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Republik Österreich unterzeichnet. Aus heutiger Sicht wirkt das natürlich seltsam.

Natürlich. So manches erscheint aus heutiger Sicht skurril. Die Gegenvariante wäre ja gewesen: Die Mauer ist gefallen, die DDR wird es bald nicht mehr geben, also unterschreiben wir überhaupt nichts mehr. Genau das wäre aber auch nicht im Sinn Helmut Kohls gewesen: die Brücken abzubrechen. Ich hatte mich damals im Vorfeld des Gesprächs mit Hans Modrow mit Helmut Kohl beraten. Ich wollte natürlich auf keinen Fall die Deutschland-Politik meines Amtskollegen, Kohl, in irgendeiner Weise stören. Ich habe ihn daher angerufen und gefragt, was er denn davon halte. Und Kohl hat gesagt: „Ich bitte dich, mach das auf alle Fälle. Der Modrow ist einer, mit dem man über die Zukunft reden kann.“

Einen Tag nach dem Mauerfall wurde Altkanzler Bruno Kreisky in der „Zeit im Bild2“ gefragt, ob es eine Wiedervereinigung von BRD und DDR geben werde. Er antwortete: „Warum soll es sie nicht geben? Wenn die Menschen sie wollen, wird es sie geben.“ Wie hat der österreichische Regierungschef das damals gesehen?

In einem größeren Zusammenhang: Die Fronten zwischen Moskau und Washington hatten sich damals zusehends aufgeweicht. Und die Frage war: Wenn der Kalte Krieg dann vielleicht eines Tages tatsächlich beendet wäre, dann wäre die deutsche Einigung natürlich möglich. Aber damals wussten wir nicht, wie es ausgeht.

Und wie war da die österreichische Position? Eine Zeit lang war, nicht zuletzt in sozialdemokratischen Kreisen, sogar von einer Neutralität nach österreichischem Vorbild die Rede.

Ich bin dann gar nicht so selten gefragt worden, ob die österreichische Bundesregierung einer deutschen Einigung positiv gegenüberstehen würde. Sie wissen ja, es gab vielfach Bedenken gegen ein größeres Deutschland, insbesondere in Frankreich. Ich habe dann immer gesagt: Wir haben da keine Angst und keine Scheu.

2009, zum 20-Jahr-Jubiläum der Wende, schrieb das „Profil“ in Berufung auf den Historiker Michael Gehler, dass die „Kronen Zeitung“ vor Ihrem seinerzeitigen Modrow-Besuch bei Ihnen angefragt habe, ob Sie sich beim DDR-Ministerpräsidenten nicht dafür einsetzen könnten, dass die „Krone“ auch in der DDR vertrieben werde. Modrow soll Ihnen dann, nachdem er sich ein wenig mit dem österreichischen Medienwesen vertraut gemacht hat, beschieden haben: Die „Presse“ oder den „Standard“ würde er schon nehmen, die „Krone“ eher nicht. Stimmt das?

Ich kann mich nicht mehr erinnern.

Ihr Vater war Kommunist. Wie sehr hat Sie das beeinflusst?

Mein Vater war Kommunist bis Prag 1968. Dann nicht mehr. Er hat sich dann klar abgewandt. Mich hat das jedenfalls nicht so beeinflusst, dass ich auch Kommunist geworden wäre. Aber es hatte insofern Auswirkungen, als ich mich schon in jungen Jahren sehr mit sozialistischer Literatur und Geschichte befasst habe. Und überhaupt mit Politik. Mein Verhältnis zu meinem Vater hat maßgeblich zu meiner sehr starken antifaschistischen Ausprägung beigetragen. Aber die Auswirkung, dass ich ein Naheverhältnis zur KP entwickelt hätte, gab es nicht.

Sie waren dann ja der Nadelstreifsozialist, der rechte Sozialdemokrat.

Der Nadelstreifsozialist war eine bemerkenswerte Formulierung. Ich habe immer gemeint: Man soll die politische Einstellung nicht auf die Textilien zurückführen. Weil es so gesehen ja viel mehr Nadelstreifsozialisten als mich gegeben hätte. Der Namensgeber dieses Hauses (das Interview fand im Bruno-Kreisky-Forum statt, Anm.) hatte die dicksten Streifen.

Sie haben die SPÖ dann von sozialistisch in sozialdemokratisch unbenannt. Warum ist das erst nach der Wende im Osten geschehen?

Das hatte mit dem Mauerfall nichts zu tun. Es hatte insofern mit dem damaligen Osteuropa zu tun, als sich viele kommunistische Parteien dort sozialistisch genannt haben. Und der politische Gegner hat diesen Zustand oft dazu genutzt, um uns in die Nähe dieser sich selbst sozialistisch genannt habenden kommunistischen Parteien zu rücken. Was natürlich nicht in meinem Interesse sein konnte. Manche politischen Mitbewerber haben diese Namensänderung ja noch Jahre lang ignoriert. Alois Mock beispielsweise hat bis zum Ende seiner politischen Tätigkeit immer von den Sozialisten gesprochen. Übrigens hat auch Bruno Kreisky von sich selbst immer als einem Sozialdemokraten gesprochen – obwohl seine Partei Sozialistische Partei hieß.

Der Vorwurf der ÖVP war ja immer, dass sie sich, allen voran Erhard Busek, um die Dissidenten gekümmert hätte, während die SPÖ-Granden lieber bei den Mächtigen in den kommunistischen Ländern antichambriert hätten.

Ich kenne diese ÖVP-Version natürlich. Sie stimmt nur nicht. Ich könnte Dutzende Beispiele anführen, als ich bei Besuchen – hier oder dort – eine Liste von politisch Verfolgten hatte, die ich mit den Machthabern besprochen habe, und für die ich ein gutes Wort eingelegt habe. Oder ihre Freilassung betrieben habe. In etlichen Fällen auch erfolgreich. Das war der eine Aspekt. Der Hauptaspekt waren aber die wirtschaftlichen Beziehungen. Und darüber konnte man eben nur mit den Amtsträgern verhandeln– und mit sonst niemandem. Die Comecon-Länder machten ja einen Großteil unserer Exportmärkte aus.

Vor allem die Verstaatlichte hat gute Geschäfte gemacht, gerade mit der DDR.

Nicht nur. Auch mit Polen. Auch mit der UdSSR.

Das war dann Realpolitik ohne großes schlechtes Gewissen.

Mir lag schon daran, die wirtschaftlichen Beziehungen zu pflegen. Und im Nachhinein hat sich gezeigt: Wir mussten dann nach dem Mauerfall bei den Wirtschaftsbeziehungen nicht bei null beginnen. Sondern wir waren schon dort. Wobei man noch hinzufügen muss: Die SPÖ hat unter Bruno Kreisky die Eisenstädter Erklärung abgegeben, dass sie sich von jeder Art von kommunistischer Partei klar distanziert.

Wann wurde Ihnen bewusst, dass der Ostblock zusammenbrechen könnte?

Das Wort „zusammenbrechen“ wäre schon zu kräftig. Es gab Anhaltspunkte, dass die Homogenität dieses Blocks zunehmend Risse und Sprünge bekam. In Ungarn etwa sind die Parteiführer zu Moskau immer mehr auf Distanz gegangen. In Polen gab es die Solidarność. Aber es war von Land zu Land verschieden. Die tschechoslowakische Führung war bis zum Schluss stramm Moskau-treu.

Spielte Michail Gorbatschow dabei die entscheidende Rolle?

Ja. Und er hat das politisch auch bitter bezahlt. Er zählt heute auf der ganzen Welt – nur im eigenen Land nicht.

Steckbrief

Franz Vranitzky,geboren am 4.Oktober 1937 in Wien, war von 1986 bis 1997 österreichischer Bundeskanzler und von 1988 bis 1997 Bundesparteivorsitzender der SPÖ.

In die Politik stieg Vranitzky, der in jungen Jahren schon im Kabinett des Finanzministers Hannes Androsch tätig war, 1984 als Finanzminister ein. Zuvor war er Generaldirektor der Länderbank gewesen.

Heute ist Vranitzky Ehrenpräsident des von ihm gegründeten Bruno-Kreisky-Forums.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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