Verheizt und vergessen: Die Diplomaten im Trainingsanzug

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Ab 1974 zog die DDR ein staatlich organisiertes Dopingsystem auf. Siege und Medaillen sollten dem Land Ruhm und Anerkennung bringen.

Es ist ein dunkles Datum für den deutschen Sport: Am 23. Oktober 1974 wurde in der DDR der Staatsplan 14.25 beschlossen und dafür die Arbeitsgruppe „Unterstützende Mittel“ gegründet. Das ehrgeizige Ziel: Die Athleten sollten als „Diplomaten im Trainingsanzug“ durch Siege, Medaillen und Erfolge dem isolierten Land zu internationaler Anerkennung verhelfen. Leistungssteigernde Mittel kamen auch schon früher zum Einsatz, doch von nun an sollten zentrale Vorgaben die Dopingpraxis in geordnete Bahnen bringen, sollte nichts mehr dem Zufall überlassen werden. Auf Kinder- und Jugend-Spartakiaden wurde gezielt nach jungen Talenten gesucht und diese dann in Sportschulen gesteckt, die Training auf hohem Niveau und das Dopingsystem bereitstellten. Spätestens mit 15 oder 16 Jahren wurden Hormonpräparate verabreicht, in Sportarten wie Schwimmen oder Turnen auch schon deutlich früher. Über den zentral geleiteten Sportmedizinischen Dienst erhielten die Trainer jene blauen Pillen, die sie an ihre – zumeist unwissenden – Athleten als „Vitamine“ weitergaben. Dabei handelte es sich in den meisten Fällen um das Anabolikum Oral-Turinabol. In den Hochzeiten investierte die Staatsführung jährlich rund fünf Millionen Mark allein in die Dopingforschung.

Die Langzeitfolgen des staatlich verordneten Dopings von über 10.000 Kindern, Jugendlichen und Spitzensportlern haben Wissenschaftler der Humboldt-Universität in Berlin 2006 auf 912 Seiten zusammengefasst: Bei 25 Prozent der Ex-Sportler wurden Krebs- oder Herzerkrankungen, bei 93 Prozent Skelettschäden sowie bei mehr als einem Drittel der Frauen gynäkologische Veränderungen, die überdurchschnittlich oft Totgeburten und Beeinträchtigungen der Kinder zur Folge haben, festgestellt. Allen Betroffenen gemein ist nicht nur die lange Liste an Gesundheitsschäden, sondern auch die schockierende Erkenntnis, ausgerechnet von jenen benutzt und betrogen worden zu sein, denen sie anvertraut wurden.

Im Zuge des Berichts erhielten die vom Staat anerkannten Geschädigten über das Dopingopfer-Hilfe-Gesetz nach zähen Verhandlungen eine Entschädigung vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und vom Unternehmen Schering, dem Rechtsnachfolger von Jenapharm, dem wichtigsten Hersteller von Dopingmitteln: im besten Fall zweimalig knapp um die 10.000 Euro.


Die Scham ist groß. Viel zu wenig aus Sicht des Dopingopfer-Hilfe-Vereins (DOH), der den Aufarbeitungsbedarf 25 Jahre nach dem Mauerfall weiter für sehr groß hält. „Die Todesliste ist mittlerweile lang, die Situation der Geschädigten wird permanent und drastisch schlechter“, betonte Ines Geipel, Vorsitzende des Vereins und einstmals DDR-Sprinterin. Rund 200 Opfer des staatlich verordneten Dopings hat die Bundesrepublik Deutschland anerkannt. Deutlich mehr, etwa 700, haben sich inzwischen beim DOH gemeldet, der die Dunkelziffer noch weitaus höher einschätzt. „Die Scham ist groß“, erklärte Marie Katrin Kanitz, selbst Dopingopfer und Mitarbeiterin der Beratungsstelle in Berlin. „Es ist vor allem für die erfolgreichen der gedopten Athleten sehr schwer, sich von ihrem Sportlerleben zu distanzieren oder es zumindest teilweise infrage zu stellen.“

Das eherne Ziel des Vereins ist es, eine staatliche Pension für die Geschädigten durchzusetzen. Bislang avanciert der juristische Kampf um späte Gerechtigkeit aber nicht selten zur Fortsetzung des sportlichen Leidensweges zuvor. So auch im Fall der Kanutin Kerstin Spiegelberg, die im September letzten Jahres als erste Athletin Deutschlands, die als Minderjährige gedopt wurde, ihren Anspruch auf Opferrente durchsetzte. Ein Gericht in Berlin anerkannte ein im Jahr 2000 diagnostiziertes Brustkarzinom als Folge des Dopings mit Oral-Turinabol und STS 646, dem sie als Jugendliche ausgesetzt war. Sechs Jahre nach Einreichen der Klage war es jedoch lediglich ein Teilerfolg. Denn die staatliche Unterstützung wurde ihr nur für ein halbes Jahr zugesprochen – so lange sei sie zu fünfzig Prozent geschädigt gewesen. Spiegelberg aber ist überzeugt, dass auch Hautkrebs, Bandscheibenvorfall, Fehlgeburt und Depressionen Folge des Hormondopings und der einhergehenden Überbelastung sind. Sie ging in Berufung – und muss seither weiter warten.

Das Ende des möglichen Präzedenzfalls wird Gerd Bonk nicht mehr erleben. Schwer gezeichnet von seiner Dopingvergangenheit verstarb der Gewichtheber, der bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal Silber im Superschwergewicht gewann, Mitte Oktober im Alter von 63 Jahren. Aus den nach dem DDR-Zusammenbruch bekannt gewordenen Aufzeichnungen geht hervor, dass Gewichtheber im staatlich verordneten Dopingprogramm die absolute Spitze darstellten, was Menge und Vielfalt der Präparate anging. So wurden dem mehrfachen DDR-Meister 1979 unter anderem allein 11.550 Milligramm Oral-Turinabol verabreicht. Zum Vergleich: Der überführte Sprinter Ben Johnson brachte es im Jahr auf 1500 Milligramm Anabolika. Das Resultat war eine schwere Zuckererkrankung, kaputte Nieren und weitere Organschäden, die Bonk bald nach dem Karriereende 1980 zum Invaliden und abhängig von Dialyse und Rollstuhl machten. „Verheizt von der DDR, vergessen vom vereinten Deutschland“, lautete sein bitteres Lebensfazit.


Auffangbecken Österreich. Im krassen Gegensatz dazu entwickelten sich DDR-Trainer nach der Wende zum Exportschlager. Ihr Know-how war auf der Welt gefragt, mögliche Verwicklungen in Doping- oder Stasifälle verblassten rasch. Österreich avancierte ob seiner Nähe und der gemeinsamen Sprache zu einem der größten Auffangbecken. So landeten etwa Hans Eckstein (Rudern), Helmut Stechemesser (einst Trainer von Stefanie Graf), Werner Trelenberg (ebenfalls Leichtathletik), Hans Müller Deck, Frank Friedrich (beide Judo), Wolfgang Kipf (Volleyball), Klaus Bonsack (Rodeln), Gerd Müller, Günter Lux (beide Rad), Rolf Gläser, einst Trainer von Vera Lischka (Schwimmen) oder Bernd Pansold in Österreich.

Letzterer heuerte nach der Wende im Olympiastützpunkt Obertauern an, arbeitete unter anderem mit Hermann Maier zusammen – auf privater Basis, wie der ÖSV betont. 1998 wurde der langjährige Sportarzt des SC Dynamo Berlin wegen Dopings von Minderjährigen in neun Fällen zu einer Geldstrafe verurteilt und musste vor der ÖSV-Beteiligung am Standort schließlich gehen. Seit 2003 fungiert Pansold als Leiter von Red Bulls Diagnostik- und Trainingszentrum in Thalgau, in dem beispielsweise Skistar Lindsey Vonn oder Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel ein- und ausgehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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