Sexualerziehung: Wie andere Schulsysteme mit Sex umgehen

(c) Teresa Zoetl
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Während Sexualkunde in Schweden schon seit den 1940er-Jahren in der Volksschule gelehrt wird, beginnt das in der Türkei bis heute erst in der Oberstufe. Für Kontroversen sorgt das Thema so gut wie überall.

Die heimische Bildungspolitik hat offenbar ein neues Wundermittel für sich entdeckt: Mit brisanten Themen werden in letzter Zeit immer öfter Expertengruppen betreut. Am vergangenen Freitag wurde dementsprechend ein weiterer Expertenbeirat angekündigt – nämlich einer für Sexualerziehung. Dieser soll die Sexualpädagogik im Auftrag des Bildungsministeriums neu und vor allem moderner gestalten.

Schon die erste Ansage von Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ), Sexualerziehung könne nicht früh genug beginnen, sorgte für Aufregung – „Die Presse“ berichtete. Stellt sich die Frage, inwieweit sich in anderen Ländern das Bildungssystem um die Aufklärung kümmert und ob das Thema Sexualerziehung auch anderswo so heftig diskutiert wird wie in Österreich.

SCHWEDEN: In der Vorschule wird passiv aufgeklärt. Später ist Sexualerziehung fächerübergreifend.

Im sozialdemokratisch und weniger kirchlich geprägten Schweden wurde der Sexualunterricht bereits in den 1930er-Jahren für alle Volksschulen gefordert. 1942 wurde er eingeführt. 1955 wurde er zum Pflichtfach. Schweden war damit eines der ersten Länder der Welt.

Heute gibt es passiven Sexualunterricht bereits in den Kindergärten. Dies nahezu ohne Kritik. Die Erzieher beantworten dabei die Fragen der Kinder, etwa darüber „wie sie zustande gekommen sind und Fragen zum Körper“, sagt Hans Olsson vom schwedischen Aufklärungsverband RFSU. Eine aktivere Sexualaufklärung in Kindergärten wird nicht diskutiert. Im Nachbarland Norwegen wird sie jedoch getestet. Etwa, um den sexuellen Missbrauch von Kindern schneller aufdecken zu können.

Der schwedische „Unterricht zum Zusammenleben“ findet schon ab der ersten Klasse, im siebten Lebensjahr, durch Lehrer statt. Bis zur vierten Klasse fokussiert er auf die Rollen von Mann und Frau. Auch Trans- und Homosexualität werden als gleichberechtigt aufgegriffen. Der Diskriminierung von normabweichender Sexualität soll vorgebeugt werden. Schon seit 1977 sind außereheliche und homosexuelle Verbindungen Thema im Unterricht. Ab der vierten Klasse wird es biologischer. Es geht um die Pubertät, den Körper, Trieb und Sexualverkehr im Detail, Verhütung, Geschlechtskrankheiten, Vergewaltigung. Insgesamt sind die Lehrpläne jedoch sehr breit gehalten. Sexualkunde kommt freilich im Fach Biologie vor. Aber eben nicht nur. So bekommen auch jene Kinder etwas davon mit, deren Eltern sie aus Berührungsängsten krankschreiben, wenn das Thema in Biologie behandelt wird. (anw)

TÜRKEI: In Familien wird Sex meist als Schande gesehen. Experten versuchen gegenzulenken.

In der Türkei klafft in Sachen schulischer Sexualerziehung eine große Lücke zwischen Forderungen von Experten und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sexualkunde findet in türkischen Schulen erst in der Oberstufe statt und wird meistens in wenigen Unterrichtseinheiten im Biologie-Unterricht oder bei Gesundheitsthemen behandelt. Da auch in den meisten Familien der größtenteils islamisch-konservativen Gesellschaft kaum über das Thema gesprochen wird, sind viele junge Türken auf sich allein gestellt. Selbst Fachleute des Familienministeriums in Ankara forderten deshalb bereits vor einigen Jahren die Einführung eines eigenen Fachs Sexualkunde an den Schulen. Geschehen ist dies bisher aber nicht.

Umfragen zeichnen laut Ministerium ein erschreckendes Bild der Unkenntnis. Jeweils mehr als 90 Prozent von befragten Studentinnen und Studenten sagten 2011 in einer Studie aus, sie seien bei ihrer ersten Monatsblutung und bei ihrem ersten Samenerguss völlig überrascht gewesen und hätten nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollten. Fast 100 Prozent aller Befragten gaben an, in ihren Familie sei das Thema Sexualität als „Schande“ behandelt und tabuisiert worden. In einer anderen Umfrage stellte sich heraus, dass viele Schüler nur sehr ungenaue Vorstellungen von der Funktion der Sexualorgane haben. Als Folge sammeln zwar drei von vier jungen Türken bis zum 24. Lebensjahr sexuelle Erfahrungen – doch die meisten wissen nichts über Verhütung oder Krankheiten. Bemühungen von Experten, durch eine konsequentere Sexualerziehung für mehr Aufklärung zu sorgen, stoßen auf Widerstand. So trafen Sexualkunde-Seminare der nicht-staatlichen Stiftung für Familienplanung für Oberschüler in Istanbul auf Proteste von Eltern. Sie warfen den Fachleuten vor, Homosexualität als „normal“ zu präsentieren und den Ehebruch zu befürworten. (güs)

DEUTSCHLAND: Sexualerziehung beginnt in der Volksschule. Über den Inhalt wird stets diskutiert.

Das Thema Sexualerziehung in der Schule lässt auch in Deutschland die Eltern nicht kalt. Zwar ist es bereits fast 50 Jahre her, dass die Kultusminister beschlossen haben, Sexualerziehung nicht nur den Eltern zu überlassen, sondern auch die Lehrer damit zu betrauen. Über die Art und Weise der Sexualerziehung wird aber immer wieder diskutiert. Zuletzt Anfang des Jahres in Baden-Württemberg.

Dort sollte der Aufklärungsunterricht um die Themen Homo-, Bi- sowie Transsexualität ergänzt werden. Der Widerstand war groß. Die Online-Petition „Zukunft – Verantwortung – Lernen: Kein Bildungsplan 2015 unter der Ideologie des Regenbogens“ fand 192.000 Unterstützer. Sie wurde zwar behandelt, hatte aber keine Auswirkungen.

Generell beginnen die Sexualkundestunden in Deutschland bereits in der Volksschule. Im Biologieunterricht wird über Verhütung, Geschlechtsorgane und die Pubertät gesprochen. Alles, was darüber hinausgeht, ist umstritten. Die einen halten eine umfassendere Sexualerziehung in einer Welt, in der sich Kinder und Jugendliche Informationen über das Internet holen, für wichtig. Die anderen fürchten eine zu frühe Sexualisierung. (j.n.)

GROßBRITANNIEN: Mädchen wünschen sich einen besseren Sexualunterricht. Mängel gibt es viele.

Das Image der prüden Briten („No Sex, we are British“) hat sich in den letzten Generationen gewandelt. Aber Rekordzahlen an Schwangerschaften von Jugendlichen und Alleinerziehern zeigen, dass es mit der Sexualerziehung nicht weit her ist. Zwar sieht die letzte Lehrplanreform vor, dass Kinder bereits in der Volksschule (zwischen vier und elf Jahren) lernen, „wie ein Baby empfangen und geboren wird“.

Darauf aufbauend sieht das nationale Curriculum dann in der weiterführenden Schule (zwölf bis 18 Jahre) Unterricht in „persönlicher gesellschaftlicher, gesundheitlicher und ökonomischer Erziehung“ vor. Dieser Gegenstand ist nicht nur ein Mischmasch, es obliegt auch den Schulen, wie und mit welchen Inhalten er ausgefüllt wird. Die Schulinspektionsbehörde Ofsted kritisiert, dass der Sexualunterricht an 40 Prozent der Schulen unzureichend sei. Zudem gilt die Lehrplanverordnung nur für staatliche Schulen. Private oder kirchliche Erziehungseinrichtungen unterliegen hier keinen Vorschriften. Experten kritisieren außerdem, dass die Vorgaben des Erziehungsministeriums aus dem Jahr 2000 mittlerweile hoffnungslos veraltet sind und beispielsweise dem Aufkommen des Internet in keiner Form Rechnung tragen. Während etwa 81 Prozent der 14- bis 16-Jährigen angeben, regelmäßig an ihren Computern sexuell freizügige Bilder und Filme anzusehen, spricht der Leitfaden noch prüde davon, dass im Sexualunterricht „der Schule angemessene Darstellungsformen zu wählen“ seien.

Unter der jungen Generation besteht ein klares Unbehagen über diese Situation: In einer Umfrage gaben Mädchen zwischen sieben und 21 Jahren als größten Wunsch an ihre Politiker die Verbesserung des Sexualunterrichts an. Insbesondere dem anderen Geschlecht fehlt es an den elementarsten Grundlagen: An den Eliteuniversitäten Cambridge und Oxford erhalten männliche Studienanfänger mittlerweile Instruktionen darüber, dass für Sex das Einverständnis beider Partner vorauszusetzen sei. (gar)

FRANKREICH: Lehrer sind in punkto Sexualerziehung nur unzureichend ausgebildet.

Auch in Frankreich ist die Sexualaufklärung für viele ein heißes Eisen, das man lieber gar nicht erst anfasst, weil man sich daran nur die Finger verbrennt. Sie wurde im Jahr 1973 in den Mittelschulen per Gesetz eingeführt. Dadurch sollte vor allem die Zahl ungewollter Schwangerschaften von Jugendlichen gesenkt werden. 2001 wurde die französische Sexualpädagogik vor allem zur Aids-Bekämpfung erweitert. Bereits in der Volksschule, und danach im College, sollen in einer dem Alter angepassten Weise drei Kurse über biologische Geschlechtsunterschiede, Fortpflanzung und Sexualität sowie über die Verhütung von Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten eingeplant werden.

Bis heute bleibt es allerdings ein Problem, dass das Lehrpersonal in keiner Weise dafür ausgebildet wurde. Es gebe zwar die Möglichkeit, externe Spezialisten hinzuzuziehen. Doch das hat sich als riskant erwiesen, weil Eltern aus religiösen oder moralischen Überlegungen einen negativen Einfluss befürchten. Erst kürzlich wehrten sich konservative Kreise gegen ein Buch, das beim Thema Gleichberechtigung der Geschlechter eingesetzt werden sollte. Sie behaupteten unter anderem, Kinder würden darin zur Masturbation und Homosexualität verleitet. (r.b.)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2014)

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