Nun lässt Athen Berlin hinter sich

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Berlin kämpft unerwartet hart mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, Athen verlässt hingegen das Jammertal der Krise.

Brüssel/Wien. „Alle Leiden um uns müssen auch wir leiden“, schrieb Franz Kafka in „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“. Der Schriftsteller wollte damit nicht die europäische Wirtschaft Anfang des 21. Jahrhunderts beschreiben. Und dennoch trifft das Zitat die Situation Deutschlands in der Finanz- und Schuldenkrise genau. Denn nun kehren sich langsam die Zahlen um. Deutschland verliert laut der am Dienstag vorgestellten EU-Herbstprognose an ökonomischer Kraft. Die EU-Kommission sieht die deutsche Volkswirtschaft am Rand der Rezession. Griechenland hingegen kann mit Wachstumsraten von 2,9 (2015) bis zu 3,7 Prozent (2016) rechnen.

Leidet Deutschland also nun an den Nachwehen jener Austeritätspolitik, die es selbst den Europartnern verordnet hat? Der erste Eindruck mag das bestätigen: Die Aufträge an die deutsche Industrie sind eingebrochen, die Exporte in die Eurozone sind rückläufig oder stagnieren. Das wirtschaftliche Leid jener Länder, die ihre staatlichen Investitionen zurückfahren mussten, die Pensionen gekürzt, Sozialleistungen gestrichen und Löhne reduziert haben, wird zu einem Teil nach Deutschland importiert.

Eine breitere Sichtweise zeigt, dass hier nur ein Teil der Ursache liegt. Deutschland exportiert nicht einmal die Hälfte seiner Waren in die Eurozone, die andere Hälfte geht in die restlichen EU-Länder und in Drittländer. Die Exportsteigerungen in Drittländer konnten bisher die Einbrüche in der Eurozone kompensieren, doch nun tragen neue internationale Krisen wie in der Ukraine oder Nahost zu einem Einbruch der Nachfrage bei. Deutschland kam freilich zugute, dass seine Waren durch einen sinkenden Eurokurs attraktiver wurden.

Wie es in der Analyse der EU-Kommission zu Deutschland heißt, trage nun vor allem die Unsicherheit bei wichtigen Handelspartnern über die mittelfristige wirtschaftliche und politische Entwicklung dazu bei, dass bei Investitionen derzeit abgewartet werde. Dies trifft natürlich insbesondere Exportnationen. Noch verfüge Deutschland über einen „robusten Arbeitsmarkt“ mit einer Arbeitslosenquote von lediglich 5,1 Prozent – weit besser als zu Beginn der Krise. Der Binnenkonsum, der stets Angelpunkt der Kritik war, hat zumindest vorübergehend angezogen. In den ersten zwei Quartalen des Jahres 2014 ist die Inlandsnachfrage laut dem EU-Bericht der entscheidende Faktor gewesen, warum das Wachstum nicht noch stärker eingebrochen ist. Ob dies freilich so bleibt, ist mehr als fraglich. Im Herbst brach nämlich laut dem Statistischen Bundesamt der Umsatz im Einzelhandel in Deutschland plötzlich stark ein.

Die andere Seite der Medaille im Vergleich zwischen Deutschland und Griechenland sind die erzielten Reformen. Griechenland, so wird in den Analysen der EU-Kommission bestätigt, habe seit dem Ausbruch der Krise 2009 auf Strukturreformen gesetzt, die Investitionen wieder erleichtern sollten. Dank des Aufbrechens von überregulierten Wirtschaftssektoren, einer effizienteren Verwaltung, aber auch durch das Organisieren und Finanzieren von Beschäftigungsprogrammen konnten nun die ersten kleinen Früchte geerntet werden. Die Arbeitslosigkeit werde sich von 26,8 Prozent in diesem Jahr auf 22 Prozent im Jahr 2016 reduzieren. Natürlich startete Griechenland seinen Aufholprozess von einem sehr niedrigen Niveau, ohne Reformen und Impulse wäre das Wachstum aber nicht von allein angesprungen.

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Kein Reformeifer mehr

Diese interne Aufbruchstimmung ist hingegen in Deutschland erlahmt. Euro-Gruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem warf kürzlich der deutschen Regierung vor, sie habe keinen Reformeifer mehr.

„Strukturreformen sind nicht etwas, was man alle zehn oder zwanzig Jahre macht“, warnte der niederländische Finanzminister in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und spielte damit auf die Hartz-IV-Arbeitsmarktreform von 2005 an. Das Land dürfe sich jetzt nicht selbstzufrieden zurücklehnen.

AUF EINEN BLICK

Deutschland kämpft mit einem Wachstumseinbruch. Während Griechenland nach Jahren der Rezession mit einem Wachstum von bis zu 3,7 Prozent rechnen kann, erwartet die EU-Kommission für Deutschland lediglich 1,1 Prozent (2015) bis maximal 1,8 Prozent (2016). Deutschland leidet am wirtschaftlichen Umfeld in der Eurozone, aber auch an internationalen Krisen wie in der Ukraine und Nahost. Ein weiterer Faktor dürften verschleppte Reformen sein.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2014)

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