Das Wachstum kommt fast zum Erliegen. Nicht nur das Sorgenkind Frankreich schwächelt, sondern auch Deutschland. Für Paris eröffnet das eine Hintertür im Budgetstreit mit Brüssel.
Brüssel. Noch keine 48 Stunden in Amt und Würden, musste der EU-Wirtschafts- und Währungskommissar Pierre Moscovici am Dienstag in die Rolle des Überbringers schlechter Nachrichten schlüpfen. Gemeinsam mit seinem finnischen Kollegen, Jyrki Katainen, der als Vizepräsident der Brüsseler Behörde für Wachstum, Arbeitsplätze und Investitionen zuständig ist, trat Moscovici gestern vor die Mikrofone, um das zu bestätigen, worüber in den Couloirs der EU-Hauptstadt seit einiger Zeit spekuliert wurde: Die Wirtschaft der Eurozone läuft alles andere als rund.
„Langsame Erholung bei äußerst niedriger Inflation“ – so lautet das Leitmotiv der Herbstprognose der EU. Und angesichts der darin skizzierten Entwicklung ist diese Überschrift noch eine Untertreibung. Denn die Wirtschaft der Eurozone wird gemäß den neuen Berechnungen 2015 um lediglich 1,1Prozent wachsen – im Frühjahr hat die Brüsseler Behörde noch mit einem BIP-Plus von 1,7 Prozent gerechnet. Auch das laufende Jahr klingt schlimmer als ursprünglich erwartet aus: plus 0,8 statt 1,2 Prozent. Ähnlich die Entwicklung in der gesamten EU, die heuer um 1,3 statt 1,6 Prozent und 2015 um 1,5 statt 2,0Prozent wachsen soll. Detail am Rand: Die Überschrift der Frühjahrsprognose 2014 hat noch „Wachstum auf breiter Basis“ gelautet. Von dieser breiten Basis hat gestern jegliche Spur gefehlt, denn auch der bisherige Wachstumsmotor Deutschland stottert (siehe Seite 2). Die einzigen (mittel-)großen EU-Mitglieder, die 2015 einigermaßen herzeigbare Wachstumszahlen aufweisen, sind Großbritannien und Polen – beides Euro-Outsider.
Mit besonderer Spannung erwartet wurden die Daten für Frankreich: Das zweitgrößte Mitglied der Eurozone hat strukturelle Probleme, sollte aber zugleich seine Staatsverschuldung in den Griff bekommen – was sich momentan allerdings nicht abzeichnet, denn statt wie den EU-Partnern versprochen, das Defizit 2015 auf drei Prozent des BIPs zu senken, kalkuliert Paris mit einem Fehlbetrag von 4,3Prozent. Und auch dieser Wert könnte sich als zu optimistisch erweisen, denn er basiert auf einem hypothetischen Wirtschaftswachstum von 1,0 Prozent, während die EU-Kommission Frankreich nun ein BIP-Wachstum von lediglich 0,7 Prozent voraussagt.
Le malaise français
Die französische Malaise bringt die Kommission in eine Zwickmühle: Sie muss nämlich bis Ende November entscheiden, ob sie den französischen Budgetentwurf 2015 akzeptiert oder Nachbesserungen fordert – und pikanterweise ist ausgerechnet der ehemalige französische Finanzminister Moscovici für diese Causa zuständig. Die Botschaft, die gestern in Brüssel verkündet wurde, war diesbezüglich nicht eindeutig, denn Moscovici und Katainen hatten sich offenbar auf eine Rollenverteilung à la „guter Polizist, böser Polizist“ verständigt: Während der Franzose betonte, dass die Rahmenbedingungen nicht dramatisch genug seien, um ein Abweichen von den EU-Defizitregeln zu ermöglichen, sprach der Finne davon, dass für ihn einzig das strukturelle, also um die Konjunktureffekte bereinigte Defizit ausschlaggebend sei. Und bei der Reduktion des strukturellen Defizits hatte die französische Regierung zuletzt zusätzliche Anstrengungen versprochen. Sollte die EU keinen Konflikt mit Frankreich riskieren wollen, stünde ihr also eine Hintertür zur Verfügung.
Was die besorgniserregend niedrige Inflation anbelangt, scheint sich das neue dynamische Duo der EU-Wirtschaftspolitik keine allzu großen Sorgen zu machen. Hauptschuld für die Entwicklung trage nicht die mangelhafte Binnennachfrage, sondern der Preisverfall bei Energieträgern und Lebensmitteln, so Katainen. 2015 sollen die Preise in Euroland um nur 0,8 Prozent steigen – die bisherige Inflationsprognose hat 1,2 Prozent gelautet. Zur Erinnerung: Die Europäische Zentralbank ist per Statut dazu verpflichtet, einen Preisanstieg knapp unterhalb von zwei Prozent anzustreben.
AUF EINEN BLICK
Die Wirtschaft der Eurozone soll im laufenden Jahr um 0,8 Prozent zulegen, für 2015 wird ein BIP-Plus von 1,1 Prozent erwartet – beide Werte liegen deutlich unter den Erwartungen der EU-Kommission vom Frühjahr, als es noch geheißen hat, die europäische Konjunktur erhole sich auf breiter Basis. Österreich ist dabei keine Ausnahme. Das Wachstum reduziert sich laut der Prognose von erwarteten 1,6 auf 0,7 Prozent in diesem Jahr. Nicht nur das BIP-Wachstum, sondern auch die Inflation soll besorgniserregend niedrig bleiben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2014)